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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Weg, blieb entweder oben in ihrem Zimmer hinter verschlossener Tür, oftmals mit William Dubinion, oder fuhr mit dem Auto zum Gesangsunterricht, wobei er ihren Chauffeur spielte (obwohl sie auf dem Beifahrersitz saß). Damals war Rasse noch ein Thema, und überall in den Südstaaten wurden Farbige gelyncht und drangsaliert, und ihre Häuser wurden abgebrannt. Trotzdem konnte es vorkommen, dass sich in unserer Stadt eine anständige weiße Frau mit einem Neger in der Öffentlichkeit zeigte, ohne einen Aufruhr zu verursachen. Es gab weder Regeln noch eine Logik dabei. So war New Orleans, und wenn man es frech genug durchzog, kam man auch damit durch. Außerdem machte es Dubinion nichts aus, vor unserem Haus im Kamelienbeet zu arbeiten, und sei es nur des Anscheins wegen. In Wirklichkeit war ihm, glaube ich, alles ziemlich egal. Er war aufgewachsen in den Baumwollfeldern von Pointe Coupée Parish, zwischen den Flüssen, hatte es irgendwie auf die Musikschule in Wilberforce, Ohio, geschafft, dann in Korea gekämpft und in der Militärkapelle gespielt. Später stolperte er in dies und das hinein, spielte ungefähr zehn Jahre lang in den Bars und Spelunken der Stadt, bevor er auf einer Gesellschaftsparty, wo er für das Unterhaltungsprogramm zuständig war, irgendwie meine Mutter kennen lernte, und dann trat sie vor den Augen der Öffentlichkeit den Beweis an, dass, selbst wenn dich dein Mann wegen einer reichen Tunte verlässt, das Leben durchaus weitergeht.
    Mr Dubinion hatte mir nie besonders viel zu sagen. Er war im Leben meiner Mutter erschienen, als ich schon auf die Militärschule ging, und als ich zu Thanksgiving nach Hause kam, war er schlicht ein fait accompli . Er war ein großer, dünner, feierlicher, lang- und gelbgesichtiger Neger mit fahlen feuchten Augen, einem weichen Lispeln und riesigen knochigen Händen, die er über die gesamte Klaviertastatur dehnen konnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn meine Mutter gut aussehend fand, aber vermutlich kam es darauf nicht an. Er parkte sich oft in unserem Wohnzimmer, trank Scotch, rauchte und improvisierte irgendwelche Melodien auf dem großen Steinway-Flügel meines Großvaters. Dazu summte er halblaut und grunzte und schaukelte vor und zurück wie der Jazzman Erroll Garner. Normalerweise sah er mich nur aus den Winkeln seiner gelben, leicht orientalischen Augen an, als gehörte keiner von uns beiden eigentlich an einen so edlen Ort wie das Haus meiner Familie. Er wusste wohl, dass er nicht für immer hier sein würde, und war froh über die Atempause von seinem sonstigen Leben, froh darüber, dass vorübergehend meine Mutter seine Freundin war. Er schien außerdem zu denken, dass ich auch nicht mehr sehr lange dort sein würde und dass wir das gemeinsam hätten.
    Ich kann mich nur noch an eins erinnern, was er zu mir sagte, und zwar war das während der zwei Tage vor Weihnachten, als ich mit meinem Vater in die Sümpfe ging – übrigens Dubinions einzigem Weihnachten bei uns. Ich kam in das große düstere Wohnzimmer, wo der Flügel vor dem vorderen Fenster stand und wo meine Mutter einen großen Weihnachtsbaum mit blinkenden Kerzen und einem goldenen Stern obendrauf installiert hatte. Ich hatte ein Exemplar von Dantes Inferno dabei, das ich über die Feiertage lesen wollte, weil ich nächstes Jahr hoffte, Sandhearst zu verlassen und in Lawrenceville aufgenommen zu werden, wo mein Vater vor Harvard hingegangen war. William Dubinion saß wieder auf seinem Platz am Flügel, rauchte und trank. Meine Mutter hatte gerade »You’ve Changed« in ihrem dünnen hübschen Sopran gesungen und sich danach zurückgezogen, denn Singen erschöpfte sie. Als er den roten Umschlag meines Buches sah, runzelte er die Stirn und drehte sich seitwärts auf der Klavierbank und schlug ein dünnes Bein über das andere, so dass seine blasse, unbehaarte Haut oberhalb der schwarzen Lackschuhe sichtbar wurde. Er trug schwarze Hosen und ein weißes Hemd, aber keine Strümpfe, was seine normale Kleidung im Haus war.
    »Das ist ein ziemlich gutes Buch«, sagte er mit seiner weichen lispelnden Stimme und starrte mich irgendwie anklagend an.
    »Es ist auf Italienisch«, sagte ich. »Es ist ein Gedicht darüber, wenn man in die Hölle kommt.«
    »Und du nimmst wohl an, dass du da hinkommst?«
    »Nein«, sagte ich. »Keineswegs.«
    » Per me si va nella città dolente. Per me si va nell’eterno dolore . Sonst weiß ich nichts mehr«, sagte er und spielte einen Akkord im Bassregister, einen

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