Eine Vielzahl von Sünden
Ich konnte sein kleines Maul bei der Bewegung sehen, nachdem die Worte schon ausgesprochen waren. Dann verblasste der Traum und wurde zu etwas anderem, das mit dem Jahrtausend-Feuerwerk an Silvester zu tun hatte und nicht in meinem Gedächtnis haften blieb wie der Paul-Thompson-Traum, bis heute übrigens.
Dieser Traum sagt mir nicht mehr als Sallies Träume, aber bestimmt fiele Merle Mackey eine Menge dazu ein.
Als ich am nächsten Nachmittag wieder in der Stadt landete, holte mich Sallie in ihrem roten Wagoneer-Jeep vom Flughafen ab. »Ich habe ihn im Wagen«, sagte sie, als wir zu den Parkplätzen gingen. Ich begriff, dass sie den Welpen meinte. »Ich will ihn ins Tierheim bringen, bevor wir nach Hause fahren. Das wird uns leichter fallen.« Sie wirkte, als hätte sie sich aufgeregt, jetzt aber wieder beruhigt. Sie hatte sich ein Paar blaugrüne Shorts angezogen, dazu eine locker fallende Bluse in Pink, die ihre hübschen Schultern freiließ.
»Hat jemand angerufen?«, fragte ich. Sie ging schneller als ich, denn ich trug meinen Koffer und eine Schachtel voller Unterlagen für den Schriftsatz. Ich hatte einen Vormittag zäher Anwaltsarbeit in einer kalten, fremden Stadt hinter mir und fühlte mich erschöpft und verschwitzt. Ein Wodka-Martini wäre mir lieber gewesen als ein Ausflug ins Tierheim.
»Ich habe Kirsten angerufen und sie gefragt, ob sie jemanden wüsste, der das arme kleine Vieh nimmt«, sagte Sallie. Kirsten ist ihre Schwester und wohnt in Andalusia, Alabama, wo sie zusammen mit ihrem Mann, dem Anwalt einer großen Baumwollgenossenschaft, einen Blumenladen besitzt. Ich mag sie beide nicht, vor allem wegen ihrer einfältigen politischen Ansichten, sie halten die Südstaaten-Flagge hoch, sind für das Morgengebet in staatlichen Schulen und für die Abschaffung von Quotenregelungen in der Personalpolitik – alles Themen, bei denen ich mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg halte. Sallie aber kann manchmal vergessen, dass sie in Mount Holyoke und Yale studiert hat, und in den Zustand einer hübschen schwatzhaften Südstaatenschönheit zurückfallen, wenn sie sich mit ihrer Schwester und ihren Cousinen trifft. »Sie meint, sie wüsste eventuell jemanden«, sagte Sallie, »und ich habe versprochen, es so zu arrangieren, dass der Welpe bis direkt vor ihre Tür gefahren wird. Heute noch. Heute Nachmittag. Dann fand sie das doch ein bisschen zu viel Aufwand. Ich habe gesagt, für sie nun bestimmt nicht, schließlich würde ich es doch machen oder jedenfalls arrangieren. Dann hat sie gesagt, sie würde zurückrufen, aber bis jetzt habe ich nichts gehört. Das ist mal wieder typisch für meine Familie, kein Verantwortungsbewusstsein.«
»Vielleicht sollten wir zurückrufen?«, schlug ich vor, als wir ihr Auto erreichten. Wir hatten ein Telefon im Wagoneer. Ich freute mich nicht besonders auf den Besuch im Tierheim.
»Sie hat es schon vergessen«, sagte Sallie. »Sie würde sich nur aufregen.«
Als ich durch das Rückfenster von Sallies Jeep schaute, sah ich den kleinen Drahtkäfig des Welpen im Kofferraum. Ich sah den weißen Kopf, rückwärts gewandt, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Was dachte er wohl?
»Der Tierarzt meinte, das wird ein richtig großer Hund. Das sieht man an den großen Pfoten.«
Sallie stieg ein. Ich stellte meinen Koffer auf den Rücksitz, um den Welpen nicht zu erschrecken. Zweimal bellte er sein verzweifeltes kleines schrilles Welpen-Bellen. Vielleicht erkannte er mich. Aber mir war klar, dass er einfach nicht so ein Welpe war, der einem schnell ans Herz wächst. Mein Vater hatte die nette Angewohnheit, Vorschläge, die ihm gemacht wurden, gegen den Strich zu bürsten, um sie zu prüfen. Wenn es zu einem Thema anscheinend nur ein Fazit gab, stellte er sich das Gegenteil davon vor: Wenn ein Geschäft einen offensichtlichen Begünstigten hatte, fragte er danach, wer noch Vorteile davon hatte, ohne dass man es merkte. Ich brauche nicht zu sagen, dass das wertvolle Instrumente bei der Anwaltsarbeit sind. Aber ich erwischte mich bei dem Gedanken – freilich ohne es Sallie zu sagen –, dass wir zwar meinten, wir täten dem Welpen einen Gefallen, indem wir versuchten, ein neues Heim für ihn zu finden, in Wirklichkeit aber nur uns einen Gefallen taten, indem wir uns genauso verhielten wie die angeblich anständigen Leute, die so was eben machen. Ich zum Beispiel bin jemand, der anhält, um Schildkröten von befahrenen Interstate-Autobahnen wegzuschaffen, oder der
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