Eine von Zweien (German Edition)
wollte es unbedingt
ausprobieren. Immer an der Grenze des Machbaren. Immer noch ein Stück weiter
als man sollte. In diesen Momenten fühlte ich mich lebendig. Alice hatte Recht.
Aber wie habe ich mich davor lebendig gefühlt?
„Alice, wie habe ich mich denn vorher lebendig gefühlt?“ Die
Worte kamen einfach so aus meinem Mund. Ich hatte nicht vor, mir vor der
perfekten Alice die Blöße zu geben. Sie hatte sicher nie Probleme. Bevor ich
mich weiter in meinen Ärger über mich selbst reinsteigern konnte, begann Alice
zu reden. „Das kann ich dir nicht genau sagen, du warst immer die Lebendigste
von uns allen. Du und Lukas, ihr habt früh dafür gesorgt, dass jeder, der das Leben
verweigert hat, nicht lange standhaft bleiben konnte. Erinnerst du dich noch an
die Frau Bayer, die immer nur gemeckert hat? Mit der habt ihr einen Vertrag
darüber geschlossen, dass sie an einem Tag in der Woche nicht meckern durfte.
Hat sie es nicht eingehalten, dann musste sie einen halben Tag mit euch
Brettspiele spielen. Heute geht Frau Bayer manchmal mit der kleinen Anna auf
den Spielplatz. Einfach nur so. Kannst du das glauben?! Ihr habt ihr die
Verbitterung ausgetrieben. Manchmal habe ich mir gewünscht, ich könnte die
kleine Beth bei dir vorbeischicken.“
War ich denn verbittert? Ich kam mir nicht so vor. Ja, an die
Frau Bayer konnte ich mich erinnern. Sie war eine richtige Hexe, aber wenn man
genauer hinsah, war sie nur furchtbar traurig und von ihrer Familie enttäuscht.
Aber ich war doch nicht frustriert. Naja, aber irgendwas musste ja dran sein,
denn irgendetwas hatte Alices Wunsch ja wahr gemacht. Wenn Alice wüsste! Was
würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass zwar nicht die kleine Beth vorbeigekommen
ist, dafür aber die große? Vielleicht würde sie Angst vor ihren eigenen
Wünschen bekommen.
„Lissi, wo wir gerade so offen zueinander sind. Ich hatte
immer das Gefühlt, dass du mit dem Umzug nach Berlin versucht hast, alles, was
Beth ausgemacht hat, zu beerdigen. Mit der Bitte, dich Lissi zu nennen, wurde es noch deutlicher. Da es aber für
uns keine Wahl gab – also entweder wir nehmen es so hin oder du ziehst
dich zurück- haben wir alle
mitgemacht. Es war schwer, vor allem für Mum. Ich hatte viele Gespräche mit ihr
und sie hat oft geweint und unserer kleinen Beth nachgetrauert. Wir haben dich
als Beth sehr geliebt und vermisst. Wir lieben dich auch als Lissi, aber du
bist so anders. Ich hab dich ja immer unterstützt. Aber ich glaube, du kannst
nicht ewig so tun, als hättest du vor Lissi kein Leben gehabt. Wenn du mich
fragst, nimmt dir das die Möglichkeit, lebendig sein zu können.
Wir Menschen müssen doch wissen, wo wir herkommen. Unsere
Erfahrungen und Erinnerungen machen uns zu dem Menschen, der wir sind. Ob wir uns
aus guten oder aus schlechten Zeiten befreit haben, sie haben aus uns gemacht,
was wir sind. Du kannst nicht einen Teil von dir, den Teil von dir, der die
ganzen Emotionen durchlebt hat, abtrennen und hoffen, trotzdem ein erfülltes,
komplettes Leben zu haben. Aber das ist nur mein hoffnungsloser Versuch, deine
Frage zu beantworten. Also mein Rat: Versöhn dich mit der Beth in dir und mit
den Leiden, die sie durchlebt hat. Tröste sie, falls nötig!“
Ja, ich hatte versucht, mich als Beth zu begraben. Bis zu den
Albträumen, die vor ein paar Monaten begannen, dachte ich auch es wäre mir sehr
gut gelungen. Doch plötzlich stand Beth wieder in meinem Leben. Und ich fing
an, mit meiner Schwester über mich zu reden. Für den Zeitraum von noch nicht einmal
einer Woche waren das sehr drastische Einschnitte in mein Leben.
Ich habe nie über mich, mein Gefühlsleben und meine
Vergangenheit geredet. Naja, anscheinend nicht als Lissi.
Lukas! Wenn ich an ihn dachte, krampfte sich mein Herz
zusammen! Nein, über ihn war ich nicht bereit nachzudenken. Erst mal sollte ich
mich um mich selbst kümmern. Als erstes musste ich mich wohl oder übel an die
Malerei wagen. Danach, danach... Ich bekam Atemprobleme. Ich hatte das Gefühl,
ein LKW stünde auf meiner Brust. „Lissi, ist alles in Ordnung bei dir? Ganz
ruhig atmen. Erst ein, dann aus. Bleib ruhig. Alles ok?“„Ja, Alice danke“, ich
zwang mich ihrer Anweisung zu folgen. Vielleicht sollte ich alles Schritt für
Schritt angehen. Es ging schließlich um die Grundpfeiler in meinem Leben. Und
ich konnte nicht alles gleichzeitig bearbeiten. Dann würde mein komplettes
Leben in sich zusammen fallen und ich würde höchst wahrscheinlich in
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