Eine wie Alaska
unangekündigte Tests ich seit sechs Wochen durchgehend vergeigt hatte. An diesem Mittwochmorgen ließ er uns wieder einen Test schreiben: Geben Sie ein Beispiel eines buddhistischen Koans . Ein Koan ist ein zen-buddhistisches Rätsel, das dir auf dem Weg zur Erleuchtung helfen soll. Ich schrieb über einen Mann namens Banzan. Eines Tages ging er über den Markt und hörte, wie jemand beim Metzger um das beste Stück Fleisch bat. Der Metzger antwortete: »Alles in meinem Laden ist vom Besten. Ich habe kein Stück Fleisch, das nicht das Beste ist.« Als er dies hörte, begriff Banzan, dass das Beste und das Schlechteste nicht existieren, dass die Urteile keine wahre Bedeutung haben, denn alles ist nur das, was ist, und puff , er erlangte die Erleuchtung. Als ich die Geschichte am Abend davor gelesen hatte, fragte ich mich, ob es auch bei mir so sein würde – ob ich Alaska plötzlich innerhalb eines Augenblicks begreifen würde, sie endlich verstehen würde und wissen, welche Rolle ich bei ihrem Sterben gespielt hatte. Aber ich glaubte nicht daran, dass die Erleuchtung einschlug wie ein Blitz.
Nachdem wir unsere Blätter abgegeben hatten, griff der Alte nach seinem Stock und zeigte auf Alaskas Frage, die an der Tafel verblasste. »Sehen wir uns den Satz auf Seite 94 der überaus unterhaltsamen Einführung zum Zen an, die Sie diese Woche gelesen haben. ›Alles, was wird, vergeht‹«, sagte der Alte. »Alles. Der Stuhl, auf dem ich sitze. Er wurde gebaut, und er wird auseinanderfallen. Auch ich werde auseinanderfallen, wahrscheinlich noch eher als dieser Stuhl. Und auch Sie werden vergehen. Die Zellen und Organe, all die Kreisläufe, die Sie ausmachen – all das ist geworden, ist zusammengewachsen, und so wird es vergehen. Buddha war sich einer Sache bewusst, die die Wissenschaft erst Jahrtausende nach seinem Tod erkannt hat: Die Entropie nimmt zu. Alles vergeht.«
Wir alle gehen , dachte ich, das gilt für Frösche und Froschmänner, für das Mädchen Alaska und für das Land Alaska, denn nichts währt ewig. Nicht einmal die Erde selbst. Buddha sagte, der Wunsch sei der Grund allen Leidens, hatten wir gelernt, und das Ende des Wünschens bedeute auch das Ende des Leidens. Wenn du aufhörst zu wünschen, dass die Dinge ewig währen, hörst du auf zu leiden, wenn sie vergehen.
Eines Tages wird sich niemand daran erinnern, dass es sie gab , schrieb ich in meinen Block, und dann: oder dass es mich gab . Denn auch Erinnerungen waren vergänglich. Und dann bist du ganz allein, nicht einmal der Geist ist noch bei dir, nur noch dessen Schatten. Am Anfang hatte sie mich verfolgt, hatte meine Träume heimgesucht, doch schon jetzt, nur ein paar Wochen später, entglitt sie mir, verging in meiner Erinnerung und in der Erinnerung der anderen, starb noch einmal.
Der Colonel, der die Untersuchung angezettelt hatte, der darauf gebrannt hatte rauszufinden, was passiert war, zu einer Zeit, als mich nur interessierte, ob sie mich liebte oder nicht – der Colonel hatte aufgegeben, ohne eine Antwort. Und die Antworten, die ich hatte, gefielen mir nicht: Was zwischen uns passiert war, hatte ihr nicht einmal so viel bedeutet, dass sie Jake davon erzählte; stattdessen hatte sie am Telefon mit ihm geflirtet, ohne ihm einen Anlass zu dem Verdacht zu geben, dass ich wenige Minuten zuvor ihren alkoholgeschwängerten Atem gekostet hatte. Und dann war auf einmal etwas in ihr gerissen, irgendwas Unsichtbares, und sie hatte begonnen, sich aufzulösen.
Und vielleicht war das die einzige Antwort, die wir je bekommen würden. Sie war gegangen, denn so ist das Leben. Der Colonel schien sich damit abgefunden zu haben. Doch auch wenn die Untersuchung ursprünglich seine Idee gewesen war, jetzt war sie das Einzige, das mich noch zusammenhielt, und ich hoffte weiter auf die Erleuchtung.
Zweiundsechzig Tage danach
Am Sonntag schlief ich aus, bis das spätmorgendliche Sonnenlicht in Streifen durch die Jalousien schien und mir ins Gesicht fiel. Ich zog mir die Decke über den Kopf, doch die Luft darunter wurde muffig und warm, also stand ich schließlich auf und rief meine Eltern an.
»Miles!«, rief meine Mutter, noch bevor ich hallo sagen konnte. »Seit heute haben wir Rufnummernerkennung.«
»Und die kann hellsehen und erkennt mich sogar, wenn ich von einer Telefonzelle anrufe?«
Sie lachte. »Nein, aber es steht ›Telefonzelle‹ da und die Vorwahl von Alabama. Ich habe eins und eins zusammengezählt. Wie geht es dir?«, fragte sie dann voll
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