Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
die Lebensfreude bändigen zu können, die ihn bis in den letzten Winkel erfüllte, »wie schön Sie sind, kleine Erna! Das Auge kann sich nicht sattsehen.«
Erna wurde dunkelrot im Gesicht.
Schließlich lösten sie sich vom Fleck und spazierten ein wenig im Volksgarten, vorbei an gemähten Rasenflächen und gepflegten Blumenrabatten, zwischen vom Spielen erhitzten Kindern, die im Sand buddelten und brüchige, bald wieder zerfallende Burgen bauten, zwischen Kinderfrauen, die sich mit einer Handarbeit beschäftigten oder ein Buch lasen, zwischen entkräfteten Greisen und Greisinnen, die vielleicht ein letztes Mal den heißen, betörenden Sommer genossen, mit etwas vagem, mattem Vergnügen, da ihre Sinne vor lauter Beanspruchung abgestumpft waren. Die beiden schlenderten schweigend, die Finger miteinander verflochten, erfüllt von tiefem, unerschöpflichem Glück, das das Herz schneller schlagen ließ und den Puls beschleunigte. Jedes banale Wort bekam besondere Bedeutung, einen schlichten und unschuldigen Sinn. Der Sommertag war unendlich schön, atemberaubend, ganz anders als alle anderen Tage davor oder danach. Eine leuchtend gelbe Sonne lastete auf der Großstadt, machte die Bewegungen etwas schwerfällig, schlapp, ungelenk, irgendwie matt und schläfrig. Aber hier, zwischen den beiden Liebenden, war alles klar, tief und durchsichtig zugleich. Zarte Bande entspannen sich vomeinen zum anderen und flimmerten fast sichtbar in der Hitze des Tages. Die beiden sahen alles, was sich vor ihren Augen abspielte, erfassten alles und nichts. Sie gingen mit offenen Augen und hellwachen Sinnen, die die kleinste Regung witterten, und waren doch blind und taub. Vielleicht würde einst, über die Jahre, eine Einzelheit dieser weltvergessenen Stunde in ihrem Gedächtnis auftauchen, ein flüchtiger Duft oder ein matter Klang, der unbewusst in ihre benebelten Sinne gedrungen war, und diese Einzelheit würde ihren Seelenzustand in diesem Moment mit aus der Versenkung holen, in dem es entfernt nach reifem Korn duftete und nach Heu und nach rotem Mohn.
Das – kristallisierte sich zu Rosts Freude ein Gedanke heraus –, das ist die Quintessenz. Dafür lohnt sich alles. Fünfzig Jahre schwere Leiden sogar. Das ganze Leben kannst du hingeben für diesen Augenblick.
Sie befanden sich nahe am Eingang, und er schlug vor, in ein Café zu gehen, um etwas zu trinken, denn auf einmal stellte sich heraus, dass ihre Kehlen ausgedörrt waren. Auf der Straße herrschte das unablässige Treiben ratternd und klingelnd hin und her fahrender Trams, ächzender Fuhrwerke, schneller Fiaker und eleganter Privatkutschen und Passanten. Es roch nach frischen Pferdeäpfeln, trockenem Staub und siedendem Teer. Aus den Süßwarenläden wehte schwacher Vanillegeruch. Die Zeitungsverkäufer riefen schon lauthals die Abendausgaben aus. Die fliegenden Eishändler mit den polierten Kesseln auf den Handwagen lockten die Kunden mit tiefen, langgezogenen Rufen: »Eiiis, Eiiis!«
Sie setzten sich auf die Terrasse eines Kaffeehauses in einer Seitenstraße, beschattet von einer ausgerollten Markise. Erna nippte an ihrem hohen, schlanken Glas mit frischer, gutgekühlter Himbeerbrause. Von Zeit zu Zeit schenkte sie Rost einen langen, schmachtenden Blick.
»Waren Sie nicht mit Friedel Kobler unterwegs?«
»War ich.« Kurz darauf: »Ich weiß nicht, Mutter ist in der letzten Zeit komisch geworden. Immer ist sie gereizt. Vor allem mir gegenüber, scheint es.«
Rost sagte ohne Bezug dazu: »Ich habe heute ein Zimmer gesucht. Hab eins gesehen, das mir passen könnte.«
Erna klang enttäuscht, als sie ausrief: »Was, Sie haben ernsthaft vor umzuziehen?« Und fügte einen Augenblick später hinzu: »Gewiss, so ist es richtiger.« Plötzlich verspürte sie leises Bedauern. Ihr Elternhaus kam ihr mit einem Mal leer und uninteressant vor.
»Sie werden mit Ihrer Familie doch in die Sommerfrische fahren.«
»Und Sie kommen nicht mit?«
»Doch.«
»Ist ja eigentlich egal«, entfuhr es Erna in jähem Groll.
»Was ist egal?«
»Nichts.«
Danach Schweigen. Ein latenter Schmerz erwachte in ihr, den sie sich nicht erklären konnte. Ihr wurde irgendwie unbehaglich. Auf der anderen Straßenseite besserten Arbeiter das Pflaster aus, verlegten neue, würfelförmige Steine nebeneinander auf dem nackten Erdboden und klopften sie mit kurzen, energischen Hammerschlägen fest. Einige der Männer waren vom Hosenbund aufwärts nackt, hatten braungebrannte Oberkörper mit behaarter Brust.
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