Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Nach außen hin verrichte ich alle Arbeiten wie zuvor. Scheinbar hat sich nichts geändert, aber in Wirklichkeit tue ich alles nur aus Gewohnheit. Ich weiß nicht, wo das alles hinführen soll.« Sie holte kurz Luft. »Ich rede offen mit dir, schonungslos, wie in einem Selbstgespräch. Es gibt Augenblicke im Leben eines Menschen, in denen kein Raum für törichten Hochmut bleibt. Der große Kummer ist nackt.«Und direkt an Rost gerichtet: »Und du? Hast du mir denn gar nichts zu sagen? Du schweigst.«
»Ich kann nichts daran ändern.«
Er wusste sehr wohl, dass Gertrud nicht auf diese Antwort gewartet hatte. Sie hatte sich ganz andere Worte erhofft, aber die konnte er nicht sagen, nicht jetzt und nicht zu ihr. Es wäre vielleicht besser gewesen, erst mal zu lügen, die Entscheidung etwas hinauszuzögern, bis sich die Sache von alleine regelte, auf natürliche Weise, nach und nach. Jetzt stand er schweigend da, wünschte, er wäre schon draußen, weit weg von dieser Frau mit ihrem Kummer, die ihm schon auf die Nerven ging.
Gertrud sank ermattet auf den nächsten Sessel. »Stimmt«, stieß sie hervor, als überwinde sie eine innere Hemmschwelle, »vielleicht kann man dir gar keine Schuld geben, weder dir noch sonst jemand.« Sie barg das Gesicht in beiden Händen und verharrte so eine Weile regungslos.
Rost fand das Ganze langsam lächerlich, lächerlich und bestürzend zugleich. In der schwachen Hoffnung, die peinliche Situation abzukürzen, und vielleicht auch aus mitleidigen Regungen ging er einen Schritt auf Gertrud zu und legte ihr die Hand auf die Schulter, als wolle er sie aufwecken. Sie fuhr hoch und stieß seine Hände weg. Blickte ihn befremdet an, und in ihren Augen standen Tränen.
»Was ist denn los?!«, riss Rost der Geduldsfaden. »Was ist denn bloß passiert?!«
»Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.«
Rost versuchte sie zu trösten. »Was ist denn so schrecklich schlimm? Du hast einen Ehemann, du hast eine Tochter, du bist gesund, schön, in den besten Jahren, lebst ein geordnetes Leben in materieller Sicherheit, und sogar einen Liebhaber hast du – wo ist denn da die Tragödie!«
»Ich habe nichts«, wiederholte Gertrud hartnäckig, »ich habe nichts. Ich brauche keinen Ehemann, ich brauche keineTochter. Ich bin ja noch nicht gestorben …« Wie aus dem Schlaf erwacht, sprudelte sie plötzlich: »Ich bin bereit, diesen Moment alles aufzugeben, in diesem Moment gebe ich alles auf ! Du brauchst nur ein einziges Wort zu sagen, und ich gehe weg, nur die kleinste Andeutung, dass du es möchtest, und ich gehe mit dir, wohin du willst, nur ein Wörtchen.«
»Genug!«, fiel Rost ihr energisch ins Wort. »Was redest du denn?« Er starrte sie fragend an. Ihm huschte der Gedanke durch den Kopf, sie könnte nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sein. Er konnte kaum glauben, dass die Worte ihm galten, so seltsam war das Ganze. Und als erfasse er jetzt erst das Absurde der Lage, brach er in schallendes Lachen aus.
Gertrud sprang auf: »Ein Witz ist das für dich!«
»Ich geh frühstücken. Auf Wiedersehen!« Und er verließ das Zimmer.
Um vier Uhr nachmittags traf er sich wie verabredet mit Erna. Vorher war er auf Zimmersuche gewesen und hatte auch schon etwas in der Nähe seines jetzigen Domizils gesehen, das seinen Wünschen beinah entsprach. Er hatte versprochen, am nächsten Tag Antwort zu geben. Danach war er zum Treffpunkt auf dem Karlsplatz aufgebrochen. Wenige Minuten nach ihm tauchte Erna auf. Ihr stets ruheloses, aufgeregtes und kapriziöses Gymnasiastinnengesicht fing an zu strahlen, als sie Rost im Schatten eines alten, ausladenden Kastanienbaums gewahrte. Vor lauter Eile oder Aufregung konnte sie im ersten Moment kein Wort herausbringen. Sie blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen, ein Lächeln im Gesicht, und funkelte ihn mit glühenden Augen an. Auch Rost schwieg. Er nahm ihre schmale Rechte in beide Hände und betrachtete sie staunend, als sähe er sie zum ersten Mal. Ihr breitkrempiger weißer Hut beschatteteihr feingeschnittenes, ovales, blasses Gesicht. Der aufmüpfige, sture, volle Mund mit den markanten Linien erregte Aufmerksamkeit auf den ersten Blick. Der Mund hatte etwas Erwachsenes, Wissendes im Gegensatz zu ihren mädchenhaften Gesichtszügen, etwas, das ungekannte Vergnügen ganz neuer Art verhieß. Man konnte nicht an ihr vorbeigehen, ohne dass der Blick an diesem eigenartigen, betörenden Mund hängenblieb.
»Ich bin froh, sehr froh«, sagte Rost, ohne
Weitere Kostenlose Bücher