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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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schwache, verschwommene, unwirkliche Schemen und den hellen Fleck des zitronengelben Kimonos, der durch den ganzen Raum schwebte. Aber Gertrud lag hier, ihr Kopf ruhte entspannt quer auf seiner Brust. Plötzlich wurde das Gewicht dieses Kopfes spürbar. Jetzt, im stummen Dunkel des einsetzenden Abends, stellte sich heraus, dass diese Frau für ihn einiges an Bedeutung verloren hatte. Rost bemerkte mit einem Mal eine Art Leerraum in einem Winkel seiner Seele: Die Verbindungsfasern zwischen ihm und ihr waren abgerissen wie gekappte Telegraphendrähte. Er bekam sogar leichtes Mitgefühl mit dieser Frau, die vor Leben sprühte wie ein brodelnder Vulkan, für ihn aber praktisch leblos geworden war. Die Möglichkeit einer körperlichen Berührung, wie sie vor wenigen Minuten stattgefunden hatte und noch als wohlige Mattigkeit in den Gliedern nachwirkte, war in weite Ferne gerückt.
    Er tastete nach dem Aschenbecher auf dem nahen Rauchtisch und drückte die Zigarette darin aus. Gertrud erschrak und sprang mit einem Satz auf. Sie müsse sofort gehen, siekönnten jeden Moment zurück sein. Sie suchte und fand im Dunkeln seine Hand und küsste deren Rücken, dann ging sie hinaus.
    Rost blieb noch ein Weilchen auf dem Rücken liegen. Nur wenige Minuten später hörte er Schritte auf der Treppe. Er sprang auf und drückte auf den Stromschalter. Das aufflammende Licht verschluckte scheinbar die Stille. Rost kämmte sich vor dem Spiegel und zog seinen Morgenrock glatt, wollte auf den Flur treten, sobald die Wohnungstür aufging.
    »Na, haben wir den Sonntag angenehm verbracht?«, begrüßte Georg Stift ihn väterlich, während er seinen Regenmantel auszog. »So ein Wetter ist ja nichts für einen Ausflug außerhalb der Stadt, was?«
    »Es gibt noch andere Möglichkeiten.« Rost schielte unverwandt zu Erna hinüber, bis er schließlich ihren ausweichenden Blick auffing, der ihm versöhnt, nicht feindselig erschien.
    »So ist es«, sagte Georg Stift und fügte hinzu: »In Ihrem Alter, oho! Da hat mir die Zeit nie gereicht. Damals wünschte ich mir, jeder Tag hätte mindestens fünfzig Stunden statt vierundzwanzig.« Er hängte sorgfältig seinen Hut an den Haken.
    Erna ging in ihr Zimmer, und Rost folgte der Einladung des Hausherrn, zu einem »kurzen Plausch« vor dem Abendessen mit in den Salon zu kommen. Georg Stift fuhr mit den Fingern einer Hand über die Tasten des offenen Klaviers und erzeugte eine Leiter erschrockener Töne, die wie Hülsenfrüchte durch die Luft kullerten. Dann ging er kurz ins Esszimmer und kehrte mit einer Portweinflasche und zwei Gläsern zurück. »Vor dem Essen«, sagte er beim Einschenken, »sollte man ein Gläschen trinken, das regt den Appetit an.« Dann sagte er: »Prost! Auf das stürmische Jugendleben! Das waren schöne Zeiten«, er strich sich über den spärlichenSchnurrbart, »die Mädchen fielen einem wie reife Äpfel in den Schoß. Eine nach der anderen! Von allen Seiten, sage ich Ihnen, mehr als nötig! Man fand gar keine Zeit mehr zum Lernen. Und die Wanderungen in den Ferien! Ein Trupp von vier bis sechs Burschen und Mädchen. Und dann kam Gertrud, wenn Sie die damals gekannt hätten! Loderndes Feuer!«
    »Das kann ich mir vorstellen.«
    »Oho«, brüstete sich Georg Stift, »nicht wenige haben sich die Finger an ihr verbrannt! Die Freunde sind geplatzt vor Neid, das können Sie mir glauben, tun es heute noch. Ich wusste halt die richtige Wahl zu treffen.«
    »Sie dürfen sich als Glückspilz betrachten.«
    »Das sind die passenden Worte: Ein Glückspilz! Eine Frau wie sie können Sie weit und breit vergeblich suchen. Die schießen nicht wie Pilze aus der Erde. Da können Sie mich fragen, ich habe schon alle möglichen Frauen gesehen, bin nicht von gestern. Noch ein Glas? Heute ist das natürlich was anderes«, fuhr Stift fort, »nicht, dass mich plötzlich das Alter angesprungen hätte, hihi.« Er dachte wieder an die geschminkte Frau in dem Klagenfurter Hotel, und eine Welle der Zufriedenheit lief über sein verändertes Gesicht. »Wie alt würden Sie mich denn schätzen?«
    »Hm … fünfunddreißig.«
    »Da haben Sie zu kurz gegriffen. Achtunddreißig, das Alter wahrer Manneskraft, aber der Mensch wird bedächtiger, gemäßigter. Schluss mit der Sprunghaftigkeit! Familie. Verantwortung. Man muss die Augen offenhalten. Schritt für Schritt, mit Bedacht, nicht wahr?« Er schob Rost einen blassblauen gläsernen Aschenbecher hinüber und rauchte eine Zigarette mit ihm – aus Höflichkeit,

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