Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
mit einem einzigen Buchstaben. Eine Frau in jeder Hinsicht, befand Rost, als er den Zettel in seine Geldbörse steckte.
13
Nach dem Abendessen schlenderte Rost eine sanft abfallende, breite Innenstadtstraße zum Kanal hinunter. Es war eine sternklare Nacht, noch frisch vom Regen. Der Himmel wölbte sich hochmütig, majestätisch über den Dächern.Gelegentlich wehte leichter Heugeruch herüber. Die Sommernacht atmete unhörbar, und die Stadt lag entblößt vor ihm, schwingend, sonntäglich, frisch gewaschen und gekämmt. Die Oberfläche des Kanals bekam hin und wieder eine leichte Gänsehaut, gelegentlich durchbrochen von eintauchenden Laternenstrahlen. Eilige Trams, einige leer, andere vollgestopft, ratterten am Ufer auf und ab, ließen an Brückenauffahrten ein hölzernes, hohles Knarren vernehmen und verschwanden ins Großstadtgewirr. Eine Perlenschnur blassblauer elektrischer Funken entzündete sich gelegentlich an den Oberleitungen, prasselte wie ein Strohfeuer. Vom Wasser drunten stieg angenehme, dämmrige Kühle auf, so wie sie einem manchmal an einem glutheißen Sommertag aus einem dunklen, sonnenlosen Hofeingang entgegenschlägt.
Die Hände nonchalant in den Hosentaschen vergraben, die kalte Zigarette im Mundwinkel, kam Rost beim Achdut an, aus dessen offenen Fenstern und Türen lautes Gelächter in die bereits menschenleere Gasse schallte. Das war die Baritonstimme von Jascha aus Odessa, erkannte Rost sofort. Im ersten Saal räumten die Kellner die Tische ab. Zwischen zwei Tischen stehend, blickte Reb Chaim Stock mit wässrigen Augen, über den zur Nasenspitze hinabgeschobenen Kneifer hinweg, in die Neue Freie Presse . Ein Stück weiter saß seine Frau tatenlos, untersetzt, das faltige Gesicht wie immer von Küchenfett glänzend. Vor ihren Augen, so klein wie geröstete Kaffeebohnen, saß eine Brille, deren Bügel im Wust der mächtigen Perücke verschwanden, die wie ein braunes Dickicht auf ihrem Kopf thronte. Sie starrte durch die Gläser ins Leere, die Hände ruhten im Schoß, und das Schlüsselbund hing an ihrer Schürze wie ein weiteres Glied ihres verwelkten Körpers.
Es war Sonntagabend, die Köchinnen hatten ihren verdienten Ausgang genommen, die Tochter Malwine war mitihrem vielversprechenden Dichter ins Theater oder sonst wohin gegangen, und Reb Chaim Stock und seine Frau hatten notgedrungen ebenfalls Feierabend, was ihnen nicht guttat. Ohne den Bezug zur Küche, der sich bei beiden unterschiedlich gestaltete, wirkten sie schlapp, überflüssig, sinnentleert. Die Küche gab jedem auf seine Weise einen Lebenszweck. Abgesehen von Malwine, der Jüngsten, waren alle Sprösslinge schon verheiratet. Die Söhne, kleingewachsene Talmudschüler mit frommen Bärtchen, trieben Handel, der eine in dieser, der andere in jener Branche, und auch die zweite Tochter, Dora Fels, hatte trotz ihrer hässlichen, verkniffenen Gesichtszüge einen Mann gefunden; sie führte einen Schneidersalon für teure Damenunterwäsche und schrieb in ihrer Freizeit emsig Romane, die nie erschienen. Trotzdem galt sie in ihren eigenen Augen und bei den übrigen Familienmitgliedern als die Gebildetste von allen: eine emanzipierte, unkonventionelle Frau, modern bis in die Fingerspitzen, mit mächtigen, vorspringenden Zähnen, die sich von den schmalen Lippen kaum im Zaun halten ließen. Ihren Romanen waren zwei Leser gewiss: Sie und Max Karp. Letzterer drückte sich zwar, wo immer die Gebote der Höflichkeit es ihm erlaubten, vor der Lektüre, ging das aber nicht, saß er stundenlang mit ihr zusammen, las und lobte ihre Manuskripte, diskutierte ausführlich mit ihr über Frauenemanzipation und fütterte sie auch mit seinen Gedichten. Später, bei ihrer Schwester Malwine, blaffte er mit abschätzigem Lächeln: »Schund .« Malwine focht dieses Urteil nicht an. Wenn Max Karp »Schund« sagte, dann war es Schund, »wo er doch so viel davon versteht!«.
Im Nebensaal hatten sich einige von der Gruppe versammelt. Rost wurde mit Freudenrufen empfangen, und Kellner Alfred wurde sofort losgeschickt, ihm was zu trinken zu bringen.
»Mischa?«, antwortete Markus Schwarz, der Dramaturg, auf Rosts Frage. »Der liegt im Allgemeinen Krankenhaus.«
»Ah! Seit wann?«
»Seit zwei Tagen. Hast du das in der Presse gelesen«, Markus Schwarz senkte geheimnisvoll die Stimme, »von dem Sprengsatz, der vor vier Tagen auf dem Schwarzenbergplatz auf den russischen Gesandten geschleudert wurde? Ein missglückter Attentatsversuch. Die Zeitungen bemühen
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