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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Niederwieser
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das vielleicht nur „Nächstenliebe“, wenn sie ihm auf der Beerdigung seines Geliebten zur Seite stand, wenn sie nach seinem Nervenzusammenbruch jeden Tag in die Klinik rannte? Taten das die Deutschen für jeden, den sie gerade erst kennengelernt hatten? Aus meinen Erfahrungen konnte ich das nur bezweifeln.
    Sie litt mit Raimondo. Und wenn die beiden zusammensaßen, war es noch deutlicher zu sehen: Sie himmelte ihn regelrecht an. Und er? Ja, welche Gefühle hegte er wohl für sie? Raimondo war nun mal sehr charmant und zuvorkommend, ein alter Kavalier und Ehrenmann, der ständig Komplimente verteilte, egal ob für B oder mich oder … na ja, Ed mal ausgenommen.
    Ihr gegenüber war er schon besonders freundlich, blühte im Gespräch regelrecht auf, vergaß darüber alles andere, sogar B und Hannah und mich – wenn ich denn mal mit in die Klinik aufs Land fuhr. Aber war Raimondo in Nani verliebt? Vielleicht brauchte er ja nach Adrians Tod nur jemanden, der die Lücke füllte.
    Das klingt abschätzig, aber das soll es nicht. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn aus ihnen ein Paar geworden wäre. Zusammen waren die beiden ziemlich rührig. Beim Spazierengehen hakte sich Nani bei ihm unter, was von hinten sehr lustig aussah, denn das Verhältnis ihrer Massen stand etwa vier zu eins. Sie, dieses zerbrechliche Ding, das den wackeligen Kopf schräg nach oben reckte, um über die fleischigen Wangen hinweg in die verträumten Augen jenes Mannes zu sehen, der mit ihrem Sohn einmal ein Verhältnis gehabt hatte – Edvard ließ mich schwören, ihr das nie zu erzählen, und ich hielt Wort. Und er, das gutmütige, tolpatschige Walroß, das seinen Kopf wohlwollend zu ihr herabneigte. Eingebettet in die voralpenländische Seenlandschaft hätten sie die Vorlage für eine Titelillustration für einen Roman von Rosamunde Pilcher abgeben können.
    Sie hätten auch gut zusammengepaßt, ich hätte dem einen den anderen vergönnt – B bekam schier einen Herzinfarkt, als ich das laut äußerte. Dann, vom einen zum nächsten Besuch, hatte sich etwas Befremdliches in die Romantik des „jungen Paares“ geschlichen. Zwischen den Worten versteckte sich der Schatten des Schweigens, ihre Berührungen waren zaghafter, die Umarmung manierlicher. Ich sah nicht wirklich einen Unterschied, ich spürte nur eine Art Schmerz, wenn ich die beiden beobachtete.
    Als ich B danach fragte, was geschehen sei, sagte er, daß Raimondo Nani gefragt habe, ob sie ihn nach Italien begleiten wolle, aber daß das nicht in Frage käme. Ich fand leider nie heraus, ob er es seiner Mutter verboten hatte – was ihm durchaus zuzutrauen wäre – oder ob sie es sich selbst verboten hatte, weil sie ihrem Theo nicht untreu werden wollte – auch ihr war so ein Gedanke durchaus zuzutrauen.
    Jedenfalls fuhr sie nicht mit ihm nach Italien, sie erwähnte nicht mal die Möglichkeit. Aber daß dieser Vorschlag – vielleicht war es sogar eine Bitte – so eine Auswirkung auf sie hatte, war für mich einmal mehr der Beweis, wie intensiv ihre Gefühle für ihn waren. Und was mich in diesem Moment besonders traurig stimmt: Trotz aller Versprechen, daß Nani ihn bald besuchen kommen würde, sahen sie einander nach seiner Abreise nie wieder.
    Ich erzähle dies, als wäre mir das damals schon so klar gewesen, aber dem war nicht so. Erst jetzt, nachdem alles so unabänderlich besiegelt ist, sehe ich, von wieviel Liebe ich umgeben war, ohne sie wahrzunehmen – ich war einfach zu sehr damit beschäftigt, sie verstehen zu wollen.
    Nach meinem Erlebnis in England war ich versucht, wieder nach Hause zu fliegen. Was sollte ich in einer Welt, in der mir zwar weder Folter noch Gefängnis drohten, dafür aber Verletzung und Einsamkeit? Ich durfte schwul sein, wurde aber mißbraucht. Und was mir noch bitterer auf der Zunge lag: Edvard hatte mir prophezeit, daß auch ich eines Tages andere so behandeln würde.
    Deutschland hatte auf mich abgefärbt. Ich traf „Verabredungen“, ärgerte mich, wenn die Straßenbahn Verspätung hatte, nur weil ich plötzlich den Druck verspürte, „pünktlich“ sein zu müssen, ja, ich streckte sogar einem Jungen die Zunge heraus, nur weil er nicht aufhörte, mich anzustarren.
    Ich blieb trotzdem hier, ich schwebte nämlich auf Wolken.
    Jahrelang hatte ich die Sehnsucht in mir getragen, einem Mann nahe zu kommen, aber keine Möglichkeit gehabt, dies zu leben. Gleichzeitig verfolgten mich sexuelle Fantasien. Ich kannte Erregung, ich hatte dieses Beben schon

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