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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Niederwieser
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holen?“
    Ich zuckte mit den Schultern.
    Edvard ging auf alle Viere, um zu Hannah hinüberzukrabbeln. „Immerhin besteht eine geringe Chance, daß Kim heute morgen auftaucht, um uns unser kleines Töchterchen zu entführen.“ Dann krabbelte er los. „Grrr“, fauchte er dabei, „der Tiger ist hungrig und will ein kleines, blondes Mädchen zum Frühstück.“
    Hannah kiekste schrill.

Lydia *
     
    Ich war sehr aufgeregt, als ich an diesem grauen Januartag in den Zug stieg. Die letzte Bahnreise hatte ich mit meinem Mann Theo unternommen. Damals hatte ich mich darauf gefreut, mit unseren Kindern Weihnachten zu feiern, ja, sie überhaupt noch einmal zu sehen, denn ich hatte geglaubt, daß ich bald nicht mehr sein würde; ich, die Krebs hatte und dem Tod so nah war, und nicht Theo, mein Mann, der trotz seiner Herzkrankheit so unverwüstlich schien.
    Ich hatte viel an die Kinder gedacht, mich um sie und meinen Mann gesorgt – wenn ich mir vorstellte, daß ich bald nicht mehr für sie da sein könnte, zerriß es mir das Herz –, und Theo schlief neben mir, merkte nichts von meinen Tränen, von meiner Verzweiflung, von meiner Angst. In diesen Stunden war in unserer Familie noch alles beim Alten. Damals waren die Molls noch eine Familie.
    Während der Fahrt – und es ist eine lange Fahrt von Heidelberg nach München – mußte ich immer wieder daran denken. Nichts hatte auf die drohende Katastrophe hingewiesen, aber vielleicht war ich auch nur zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, mit meinem zerfallenden Körper, mit meiner quälenden Schlaflosigkeit, mit meinen Sorgen.
    Alles war zusammengekommen: Der Mann meiner ältesten Tochter Sieglinde, Eberhard, hatte das Tauziehen in ihrer Ehe für sich entschieden. Weihnachten feierte er mit seiner Sekretärin, jener jungen Dame, wegen der er sich wenig später von meiner Tochter scheiden ließ, die aber bald darauf einen anderen heiratete, um mit ihm zwei Kinder zu bekommen.
    Am selben Abend erfuhren wir, daß mein geliebter Sohn Bernhard niemals heiraten würde – ein Umstand, den ich schmerzlich geahnt, von dem ich aber immer gehofft hatte, daß er sich ändern würde.
    Tja, und dann hatte Theo den Herzinfarkt, im Flugzeug, auf dem Weg in die zweiten Flitterwochen, wie er unseren Urlaub genannt hatte; sie waren ihm so wichtig gewesen. Kilometer von der Erde entfernt starb er, weit weg von seiner Familie. Das war bezeichnend für ihn, ebenso, daß ich danebensitzen mußte und es mit ansehen, ohne ihm helfen zu können.
    An all das erinnerte ich mich, während die Landschaft an mir vorbeirauschte, an das und daran, daß ich mir damals so sicher gewesen war, die letzte Zugfahrt zu unternehmen. Nie hätte ich geglaubt, vier Jahre später wieder in eine Eisenbahn zu steigen.
    Das Sitzen strengte mich an. Seit meinen Operationen und den Chemotherapien hatte ich nicht mehr so viel Kraft. Immer wieder nickte ich ein und träumte, daß Theo neben mir saß. Er sah gesund aus: seine rosige Haut, sein dicker Bauch, das krause, graue Haar auf seinen Unterarmen und diese Stille, die mir Sicherheit gab. Es war schön zu träumen, daß er da war, und so wirklich, daß ich mich nach jedem Aufwachen zur Seite drehte, um ihn anzulächeln. Aber er war nicht da, nur die Erinnerung daran, wie er nach Luft schnappend auf dem Boden des Flugzeugs gelegen hatte, unzählige Augenpaare auf ihn gerichtet. Mein Theo. Soviel Zeit hatten wir allein verbracht, aber seinen letzten Atemzug tat er mitten unter Fremden. Ich wußte nicht, warum ich immer wieder daran denken mußte. Und jedesmal liefen mir die Tränen.
    Meinen Theo zu verlieren war schlimm. Viel schlimmer war allerdings, daß unsere Familie danach auseinanderbröckelte. Die Nachricht von Papas Tod versetzte meinem kleinen Bernhard einen solchen Schock, daß seine Schwester Gudrun einen Notarzt holen mußte. Der arme Junge.
    Danach war er wie ausgewechselt. Bleich, abgemagert und mit wirrem Blick tauchte er auf der Beerdigung auf. Dann begann er, seltsame Fragen zu stellen: über Theos Stationierung im Krieg, über seine Großeltern, ja und ob Papa „Männerfreundschaften gepflegt“ habe. Dabei hatte sich sein Vater nie für Sex interessiert, nicht einmal mit mir.
    Bernhard zog sich immer mehr von mir und seinen Geschwistern zurück, verschloß sich vor uns. Er besuchte mich nur noch selten, das letzte Mal vor über einem Jahr. Und wenn er kam, sprachen wir bloß über Belangloses, und selbst das nicht lange. An Papas Grab ging er

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