Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
jedesmal, jedenfalls sagte er das; es war seine Ausrede, um wieder von mir wegzukommen. Ich wußte nicht, was ich ihm angetan hatte.
Der Münchner Bahnhof, er ist so groß. Als wir einfuhren, stand ich an der Tür und schaute auf die Menschen hinaus, die auf dem Bahnsteig warteten. Es waren so viele, wie würde mich Bernhard finden?
Dann hielt der Zug an, aber ich fand den Türgriff nicht. Ein junger Mann – er war vielleicht gerade mal vierzig – schob mich ungeduldig zur Seite und drückte auf einen Knopf; er sagte kein Wort dabei, machte nur ein mürrisches Gesicht. Woher sollte ich denn wissen, daß in diesen modernen Zügen die Türen per Knopfdruck aufgehen?
Auch als ich auf dem Bahnsteig stand, konnte ich mein Söhnchen weit und breit nicht sehen. So viele Menschen. Es erschreckte mich. Ich wartete, bis sich die Menge lichtete. Kein Bernhard. Wie sollte ich nur meinen Koffer tragen? Angekettet an einen Pfeiler standen Transportwagen. Ich suchte nach der richtigen Münze, was mir ohne Brille schwerfiel, kettete einen Wagen ab und zerrte meinen Koffer darauf, um ihn dann den Bahnsteig hinunterzuschieben, bis in den Bahnhof hinein. Irgendwo mußte er ja sein, mein Sohn.
Erst als ich am Kopf des Zuges angelangt war, sah ich ihn. Bernhard stand an eine Anschlagtafel gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich hatte ihn nicht wirklich gesehen – meine Augen sind sehr schlecht geworden –, ich hatte ihn vielmehr an dem erkannt, was nur eine Mutter sieht: Wie von einem Vakuum umgeben schien er zu sein. So war er immer gewesen, mein Jungchen, als wäre ein Teil von ihm woanders, ganz wie sein Vater.
Mich sah er erst, als ich direkt vor ihm stand. Wahrscheinlich hatte er nicht mal mitgekriegt, daß mein Zug angekommen war. Ich nahm ihn in den Arm, Bernhard drückte mich und schob mich dann schnell wieder von sich. Da war etwas Steifes in seiner Haltung, das kannte ich schon als Baby von ihm: Während meine anderen Kinder lachten und sich an mich klammerten, wenn ich sie auf den Schoß nahm, wurde Bernhard steif wie ein Scheit Holz. Er verzog das Gesicht, wenn ich ihn streichelte, und stemmte sich gegen mich, wenn ich ihn halten wollte.
Er hatte sich verändert: Sein Haar trug er jetzt kürzer, was ihn irgendwie jünger aussehen ließ. Aber vielleicht lag es auch an seiner Kleidung. Sie war so anders, heller, bunter, sie kam mir so … modisch vor. Bernhard schien aufgeblüht, als hätte sich der Schatten verzogen, der ihn früher verfolgt hatte. Der finstere Zug um seine Augen, er war weg.
„Du rasierst dich nicht, mein Junge“, sagte ich zu ihm. „Wie läufst du nur rum?“ Er hatte ein Bärtchen um seinen Mund herum bis unter das Kinn. Viele junge Männer aus dem Freundeskreis meines Sohnes trugen so ein Bärtchen, sie nannten es Goatie, aber das lernte ich erst später.
„Mama!“ sagte er gequält, nahm den Koffer vom Wagen und marschierte los.
„Meine Mark. Bernhard, da ist noch meine Mark drin!“
„Laß sie stecken, Mama. Ich geb dir nachher eine.“ Er ließ den Wagen stehen und ging auf die Rolltreppe zu. Ich mußte laufen, um hinterherzukommen.
Die U-Bahn war sehr voll; der unbändige Betrieb in dieser Stadt überwältigte mich, aber ich ließ mir nichts anmerken. Wie fand er sich in diesem Getümmel nur zurecht? Bernhard redete kaum, so ein wortkarger Junge, ganz wie sein Vater. Er beantwortete meine Fragen über die Schule und den Stoff, den er gerade durchnahm, mehr nicht. So sehr er sich äußerlich verändert zu haben schien, das Undurchdringliche war ihm geblieben.
Wir fuhren nicht sehr lange, wenigstens kam es mir so vor. Dann jagte er den Ausgang hinauf, hinaus in die Kälte und steuerte auf ein großes, edles Haus zu. Ich war mir sicher, daß ich in dieser Gegend noch nie gewesen war. „Bist du umgezogen?“ fragte ich.
„Ja“, antwortete er. „Ja“, nichts weiter, als bedürfe das keiner Erklärung.
Wir stiegen in den kleinen Aufzug, der offensichtlich erst vor zwanzig Jahren eingebaut worden war. „Seit wann wohnst du hier?“ fragte ich vorsichtig. Er hatte mir keine neue Adresse mitgeteilt.
„Schon eine Weile.“
„Bornheimer & Moll“ stand in schwarzen, schwungvollen Lettern auf dem Klingelschild aus poliertem Messing – er lebte also nicht mehr alleine.
Bernhard schloß die Tür auf und schritt in eine Welt, die für ihn selbstverständlich und mir bisher verschlossen geblieben war. Wie gelähmt blieb ich im kalten Treppenhaus stehen und schaute in ein
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