Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
hatte, hat ihr Übriges getan, dass sie zu dem Schluss kamen, dass ich doch für mein Alter geistig noch sehr fit und keineswegs unmündig sei.
Ich habe meinen Sieg mit einer Reihenbestellung bei zehn Versandhäusern gefeiert, extra dicken Päckchen mit neuem Fernseher, Videorekorder, einer Stereoanlage, die sich wunderbar laut drehen lässt, so dass sogar die alte Frau Carlsen am Ende des Ganges was von der Musik hat, und natürlich haufenweise Klamotten, die die Schwestern in meinen überquellenden Schrank einsortieren mussten. Das war wirklich ein toller Tag, und seitdem verschmerze ich es auch viel besser, dass sich meine Herren Söhne nicht mehr blicken lassen.«
Die drei Frauen lachten, und Anna lachte mit, denn die Vorstellung, dass diese Frau, die so grummelig erschien, eigentlich nur jung geblieben war und ihr Leben genießen wollte, war einfach zu schön!
Jetzt blieb nur noch Flieder mit ihrer Heimgeschichte. Nachdem sie sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte, begann sie nachdenklich: »Ich bin ins Heim gegangen, weil ich Angst hatte, im Alter nicht mehr allein zurechtzukommen. Das ist eigentlich sehr komisch, denn ich war in meinem Leben immer allein zurechtgekommen. Doch dann hatte ich diesen Schlaganfall, der mich von einem Tag zum anderen verstummen ließ. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nicht mehr sprechen.«
Anna zog die Augenbrauen hoch. Der Frau, die vor ihr saß, sah man vielleicht ihr Alter an, aber nicht, dass sie einen Schlaganfall gehabt hatte und unter Aphasie litt.
»Sie schauen mich verwundert an, Kindchen«, bemerkte die Fliederdame, als sie ihren Blick auffing. »Aber so war es, ich konnte fast ein ganzes Jahr nicht richtig sprechen. Meine Lippen wollten die Worte formen, doch es kam stets etwas anderes heraus, als ich sagen wollte. Wenn mir die Worte überhaupt einfielen und nicht zu Buchstabenmatsche wurden. Um meinen Kindern nicht zur Last zu fallen, habe ich mich entschlossen, ins Heim zu gehen. Dort gefiel es mir anfänglich gar nicht, aber ich beschloss, die Zähne zusammenzubeißen und mich irgendwie ohne Worte durchzuboxen. Glücklicherweise gab es im Heim Menschen, die sich um mich kümmerten, und meine Kinder, die schockiert waren von meinem Entschluss, veranlassten, dass ich eine Therapie bekam, die mir das Sprechen wieder beibrachte. Wie Sie sehen, mit Erfolg, hin und wieder vergesse ich mal noch ein Wort, aber das geschieht nicht besonders häufig.«
»Und wenn Sie wieder gesund geworden sind, warum sind Sie im Heim geblieben?«, fragte Anna, die davon überzeugt war, dass Flieder von allen dreien noch am besten im eigenen Leben auskommen würde.
»Na ja, es ist so wie in der Schule. Die Älteren lassen einen nicht mitspielen und die Jüngeren wollen auch nichts von einem wissen. Im Heim war ich endlich wieder unter Gleichaltrigen und konnte mich wieder jung fühlen. Etwas, das mir schon lange nicht mehr gelungen war im wirklichen Leben.«
Sie warf den anderen beiden ein Lächeln zu. »Und weil ich Freundinnen gefunden habe. Die beiden mögen es vielleicht nicht zugeben, aber ich sage Ihnen, Mädchen, es war kein Zufall, dass wir drei gemeinsam aufs Klo gegangen sind und gemeinsam vergessen wurden. In unserem Heim haben sich drei Paradiesvögel getroffen. Wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, kleiden wir uns alle drei nicht so, wie man es von alten Leuten erwartet, und meist verhalten wir uns auch nicht so. Genaugenommen verändert man sich gar nicht so sehr, wenn man alt wird. Man glaubt nur, dass man sich verändern muss, aber das ist falsch.«
Auf diese Worte folgte minutenlanges Schweigen. Anna dachte an Frau Hallmann und den Brief, den sie kurz zuvor gefunden hatte. Wahrscheinlich steckte in ihr auch immer noch die junge Gertrud, die sich über Briefe von ihrem jungen Soldaten freute.
Dann wanderten ihre Gedanken zu ihrer Mutter. Was würde aus ihr werden, wenn sie alt war? Trotz aller Differenzen war Anna sicher, dass sie sie nicht in ein Heim abschieben würde. Und Gerd? Bei dem redete sie sich damit heraus, dass es nicht in ihrem Ermessen liegen würde. Er hatte zahlreiche Schwestern und Brüder, außerdem hatte er ihre Mutter, und eines Tages würde Jonathan, sein leiblicher Sohn, auch erwachsen sein.
Wenn sie ehrlich war, überforderte das Anna ziemlich, denn bisher hatte sie noch nicht darüber nachgedacht. Dass es gerade jetzt geschah, fühlte sich für sie merkwürdig an.
»Ich glaube, ich sollte uns noch eine Runde
Weitere Kostenlose Bücher