Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
er mir die Schulter. ›Wird schon, Mädchen.‹
Ich konnte seiner Ansage nicht viel abgewinnen, doch schlimmer noch als die Vorstellung, gleich von einem wildfremden Mann entbunden zu werden, waren die Schmerzen, die mich heimsuchten. Bei den anderen Kindern hatte es länger gedauert, doch dieses hier schien nicht mehr warten zu wollen. Ich rechnete neun Monate zurück und machte mir im Geiste eine Notiz, nie mehr im März Sex mit meinem Mann zu haben. Na ja, wenn man es genau nimmt, hatte ich in diesen Augenblicken den festen Entschluss, überhaupt gar nie mehr Sex mit meinem Mann zu haben, aber ich war wohl kaum voll zurechnungsfähig.
Meinem Mann hatte der große Selbstgebrannte jedenfalls ziemlich geholfen. Nachdem er sich von seinem Husten wieder erholt hatte, ging eine erstaunliche Wandlung mit ihm vor. Seine Wangen und seine Nasenspitze färbten sich rosig, sein Blick wurde verklärt, und als ihm der Schäfer, nachdem er zurückgekehrt war, klarmachte, dass er ihm assistieren musste, gab er nicht ein einziges Widerwort.
Allerdings wurde mein Unwohlsein wesentlich größer, und das lag nicht an den Wehen allein oder an der Tatsache, dass ich spürte, dass es gleich richtig losgehen würde. Ich würde nun meine Beine vor dem Schäfer spreizen müssen. Bei meinem Mann hatte ich keine Probleme damit, aber bei dem Alten.
›Na mach schon, Mädchen, stell dich nicht an wie ’ne olle Jungfer‹, brummte er, als er das mitbekam. ›So wie’s reingekommen ist, muss es auch wieder raus. Und glaub mir, ich hab schon mehr als das gesehen.‹
Das klang nicht vertrauenerweckend, aber was sollte ich machen? Ich lehnte sein Angebot, ebenfalls ein großes Glas Selbstgebrannten zu kippen, ab und fügte mich in mein Schicksal. Während ich nun versuchte, das Kind aus mir herauszubekommen, kam ich mir vor wie in einer merkwürdigen Komödie. Das Haus roch nach Schaf, über mir, an der Decke, reihten sich an einer Leine die mehrfach geflickten Unterhosen des alten Schäfers auf, und vor mir saßen zwei erwartungsvolle Männer, einer schwankend vom Schnaps, der andere immer noch düster dreinblickend, das aber wohl nur, weil er kein anderes Gesicht hatte. Tja, und irgendwann kam das Kind.« Sie pausierte kurz, um den anderen die Gelegenheit zu geben, gedanklich nachzuziehen – oder wieder wach zu werden, denn Butterblume gab zwischendurch deutliche Schnarchgeräusche von sich. Dann sagte sie: »Und glaubt mir oder nicht, aber in dem Augenblick, als es auf meiner Brust lag, war es mir egal, dass ein fremder Mann an meiner Nabelschnur herumwerkelte, ich in einer Hütte mit Unterhosen war und mein Mann vor Übelkeit mittlerweile beinahe vom Stuhl kippte. Ich hatte mein Geschenk für all die Strapazen bekommen. Und irgendwann tauchte auch unser Nachbar auf und brachte mich mit seinem wieder zum Leben erwachten Wagen ins Krankenhaus.«
Das war mal eine Geschichte! Anna saß ziemlich beeindruckt da, dann fragte sie sich, welches Geschenk sie am Ende ihrer Odyssee bekommen würde. Kein Baby, aber vielleicht doch ein wenig Frieden und ein schönes Fest. Gab es etwas, das sie dafür tun musste? Aber was? Durch Schnee war sie ja schon gewatet, und wer weiß, vielleicht lag ein weiterer Gewaltmarsch noch vor ihr?
Eine Weile grübelte sie, bis die wiedererwachte Butterblume sie unsanft aus ihrer Rührung holte.
»Ach, diese alte Kamelle! Erzählst du sie im Heim noch mal, hole ich Klebestreifen, das kannst du wissen.«
»Wie ich schon sagte, wir haben hier eine neue Zuhörerin. Dir alter Muffeltante erzähle ich sie bestimmt nicht mehr, auch dann nicht, wenn du Alzheimer kriegst und sie vergisst.«
»Pah, der Alzheimer fürchtet mich genauso wie die Schwestern!«, gab Butterblume zurück und leerte den Rest in ihrer Tasse mit einem Zug.
»Mein schönstes Weihnachtsfest war 1944 , ob ihr es glaubt oder nicht«, erklärte die Rosendame mit sanfter Stimme, wohl um den aufkeimenden Streit zu unterbinden. »Natürlich, es war Krieg, und in Hamburg waren wir gerade ausgebombt worden. Meine Mutter und ich hatten einen Keller gefunden, in den wir mit meinen zwei kleinen Geschwistern eingezogen waren. Es gab kein richtiges Schloss, mit dem man den Raum sichern konnte, aber immerhin hatten wir ein Dach über dem Kopf. Außerdem gab es in der Nähe einen Luftschutzkeller – kurzum, die Unterkunft erschien uns ideal. Allerdings waren wir sicher, dass wir in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum haben würden. An Geschenke oder einen
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