Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
durch meine Mutter, doch das war er nicht. Er schien mit nichts anderem gerechnet zu haben.
Schließlich traten Tränen in die Augen meiner Mutter. ›All die Jahre‹, flüsterte sie. ›Ich dachte, du wärst tot.‹
Und er antwortete daraufhin leise: ›In den letzten Jahren habe ich mich auch so manches Mal tot gefühlt. Immer dann habe ich an euch gedacht, an dich und Waltraud und die Kleine. Und jetzt hat Traude mir erzählt, dass ich auch noch einen Sohn habe …‹
Diese Worte brachen das Eis. Schluchzend ging meine Mutter voran und umarmte ihn. Nun brach auch er in Tränen aus, und so hielten sie sich eine ganze Weile.
In dem Jahr feierten wir Weihnachten wie nie zuvor, auch wenn mein Vater sich vorsehen musste. Er war aus seinem Regiment geflohen, und in der Stadt suchten Feldjäger nach Deserteuren. Aber nicht mal ein halbes Jahr später war der Spuk vorbei – genauso, wie ich es mir in der Weihnachtsnacht gewünscht hatte. Und ich hatte das schönste Geschenk von allen erhalten.«
Anna wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Die Geschichte hatte sie noch mehr angerührt als die der Fliederdame. Außerdem passte das, was sie erzählt hatte, sehr gut zu dem Brief, den sie gelesen hatte. Dürfte sie Frau Hallmann danach fragen, wenn sie wieder in Leipzig war? Oder würde das Ganze nur alte Wunden aufreißen? Vielleicht hatte sie ihr auch eine Geschichte zu erzählen? Egal, ob diese gut oder schlecht ausging …
»Was ist mit deinen Weihnachtsfesten?«, wandte sich Flieder jetzt an Butterblume. Diese zog ein Gesicht, als müsste sie auch jeden Moment weinen. Sicher kannte sie die Zeit, von der ihre Freundin erzählt hatte, auch. Was mochte damals geschehen sein, dass sie plötzlich so erschüttert war.
»Ach, das interessiert doch keinen«, winkte sie ab. »Es reicht schon, wenn ihr das Mädchen langweilt.«
»Oh, ich würde wirklich gern etwas über Ihr schönstes Weihnachtsfest erfahren«, sagte Anna schnell. »Und gelangweilt haben mich die Geschichten bisher nicht. Sie ähneln ein wenig denen, die ich von meiner Frau Hallmann höre.«
»Wohnt die in Berlin?«, fragte Rose, worauf Anna den Kopf schüttelte
»Nein, in Leipzig. Ich kümmere mich um sie, weil ihre Kinder weit weg sind. Sie will nicht in ein Heim gehen, also gehe ich für sie einkaufen.«
»Ihre Frau Hallmann hat wirklich großes Glück«, entgegnete Butterblume, und für einen Moment konnte man ihr wieder den Zorn über ihre Einweisung ins Heim ansehen. »Ich hätte auch gern ein nettes Mädchen wie Sie, die sich um mich kümmert. Die Schwestern sind immer so rabiat.«
»Du würdest sie nur ärgern«, entgegnete die Fliederdame.
»Ich ärgere nur die, die mich auch ärgern. Die Schwestern haben es nicht anders verdient.«
Butterblume seufzte, dann sagte sie: »Wenn ich es genau nehme, gibt es bei mir entweder schöne Weihnachtsfeste oder schreckliche. Ich kann nicht sagen, dass ein Fest schöner als das andere war. Und bei den schrecklichen waren sie alle auf ihre Weise schrecklich, aber das kann man niemandem erzählen.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte die Rosendame Waltraud. »Dass du kein schönstes Weihnachtsfest hattest. Du willst nur nicht drüber reden.«
Butterblume kniff die Lippen zusammen. Ein Psychologe hätte daraus sicher geschlossen, dass ihre Freundin recht hatte.
»Na gut, dann erzähle ich euch was«, lenkte sie schließlich seufzend ein. »Ihr lasst einem ja ohnehin keine Ruhe. Und vor dem Mädchen möchte ich auch nicht als trübe Tasse dastehen.«
Sie setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht, blickte nach rechts und links, als wollte sie sich vergewissern, dass niemand sonst zuhörte, dann begann sie zu erzählen.
»Das Weihnachtsfest, das ich im Nachhinein als das schönste ansehe, war 1992 . Die Kinder hatten sich in diesem Jahr geweigert, zu uns zu kommen, weil es kurz zuvor einen heftigen Streit gegeben hatte.«
»Aber wie kann das dein schönstes Weihnachtsfest sein?«, wunderte sich Flieder. »Das klingt ja schrecklich!«
»Das war es in weiten Strecken auch. Meine Söhne haben unsere Enkelkinder systematisch von uns ferngehalten. Mein Mann hatte damals versucht zu schlichten, aber meine Jungs haben meinen Dickkopf geerbt, und so blieb es bei Funkstille. Wir richteten uns darauf ein, allein zu feiern, als mein Mann plötzlich auf die Idee kam zu verreisen.
›In der Zeitung habe ich was von Last-Minute-Angeboten gelesen‹, sagte er unternehmungslustig. ›Lass uns doch einfach
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