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Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)

Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)

Titel: Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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Weihnachtsbraten dachten wir schon lange nicht mehr. Aber meine Mutter hatte sich an diesem Weihnachten in den Kopf gesetzt, trotz allem ihre berühmten Mohnklöße zu machen, das Rezept stammte noch von ihrer Großmutter aus Schlesien. Also schickte sie mich zu einer Bekannten am anderen Ende der Stadt, von der sie nicht nur wusste, dass deren Haus noch stand, außerdem hatte diese Frau auch einen großen Vorrat an Mohn im Keller. Ich zog also meinen Mantel über und machte mich auf den Weg. Unterwegs kam ich an zahlreichen Ruinen vorbei, in denen die Leute nach Brauchbarem suchten. In einigen Straßen schafften Männer unter Aufsicht von irgendwelchen Nazis Bauschutt von der Straße. Kinder kletterten in den Trümmern herum.
    Da nur hin und wieder noch eine Straßenbahn fuhr, beeilte ich mich, so schnell wie möglich zu Tante Hilde, wie ich sie nannte, zu kommen. Die Angst vor einem weiteren Fliegerangriff saß mir im Nacken. Was sollte ich tun, wenn die Bomber wiederkamen? Was würde dann aus meiner Mutter und meinen Geschwistern werden?
    Ich suchte den Himmel ab, der schwere Schneewolken trug, konnte aber kein Flugzeug entdecken. Im Nachhinein eine ziemlich kindische Geste, denn wenn feindliche Bomber im Anmarsch waren, hörte man sie schon von weitem. Wenn man sie sah, war alles zu spät.
    Auf dem Weg zu Tante Hilde kam ich auch an unserem alten Wohnhaus vorbei. Ein großer Steinhaufen lag an seiner Stelle, schwarz und angekohlt. Mir wurde das Herz schwer, denn ich erinnerte mich an die Weihnachtstage, die ich hier verbracht hatte, an Mohnklöße, Weihnachtslieder und den Duft von Tannenzweigen. Ich erinnerte mich an meine Freundinnen, die, wenn sie überhaupt noch lebten, über die ganze Stadt verstreut waren. Und ich dachte auch an unsere Nachbarn. Es war seltsam. Man sorgte sich um Menschen, die man teilweise nicht mal richtig gut leiden konnte – nur weil sie im eigenen Haus, im eigenen Block gewohnt hatten.
    Da tauchte plötzlich ein Mann zwischen den Trümmern auf. Er war eine ziemlich abgerissene Gestalt mit seiner zerlumpten Jacke und der Schiebermütze. Seine gesamte Kleidung war noch unordentlicher als das, was die Männer damals gewöhnlich trugen – nach dem Krieg und den Angriffen war das schon unter aller Würde.
    Natürlich machte mir diese Gestalt Angst, am liebsten wäre ich umgedreht, doch dann sagte ich mir, dass er nur einer von den armen Seelen war, die jetzt nicht mal mehr einen Keller hatten. Wahrscheinlich würde der Mann an mir vorübergehen und ich würde ihn vergessen.
    Aber er ging nicht vorüber.
    ›He, Mädchen!‹, rief er und winkte mir zu. Ich zögerte. Meine Mutter hatte mich ermahnt, nicht mit fremden Männern mitzugehen. Obwohl ich mit meinen zwölf Jahren kein kleines Kind mehr war, hörte ich auf sie und hielt mich fern. Doch der Mann, der seinen Arm in einer Schlinge trug, sah mich so flehentlich an, dass ich gar nicht anders konnte.
    ›Ja?‹, fragte ich, spannte aber meine Muskeln an, für den Fall, dass er mich packen wollte. In der Schule hatten sie mich immer nur den ›Windhund‹ genannt, weil keine schneller rennen konnte als ich.
    ›Kannst du mir sagen, wo ich die Familie Kahl finde?‹, fragte er mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen. ›Ich war schon bei dem Haus, doch das ist nur noch ein großer Trümmerhaufen.‹
    Nun gab es viele Kahls in Hamburg. Welche meinte er denn genau?
    Ich stellte ihm diese Frage, worauf er zu erzählen begann, dass seine Frau drei Kinder hätte, die älteste Tochter hieß Waltraud. Ich erstarrte, als ich das hörte. Dann suchten meine Augen sein Gesicht. Ich muss zugeben, außer einen kurzen Blick in seine Augen hatte ich mich noch nicht darum gekümmert. Was ich jetzt sah, erschreckte mich zutiefst.
    ›Ich bin Waltraud Kahl‹, antwortete ich kleinlaut und konnte nicht glauben, dass ich meinem Vater gegenüberstehen sollte. Zuletzt hatte ich ihn 1939 gesehen, als er zur Armee eingezogen war. Eine ganze Zeit lang war er verschollen gewesen, seit 1942 hatten wir keine Nachricht mehr von ihm bekommen. Meine Mutter tat uns gegenüber so, als würde sie noch hoffen, doch ich fürchtete, dass sie schon lange glaubte, er sei tot.
    Und nun stand er hier. Oder gab zumindest vor, dass er es war. War er es wirklich? Ich betrachtete ihn eindringlich, sah, wie er mit sich rang.
    Dann stiegen ihm Tränen in die Augen und verwischten seine blaue Iris. ›Waltraud?‹, fragte er, als hätte er nicht richtig gehört. ›Waltraud,

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