Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
stattlichen Schnurrbart, der allmählich seine Konturen verlor. Er wirkte nicht besonders frisch, aber schien bereit zu sein, nach Beendigung seines Frühstücks aufzubrechen. Sein Truck war zu dieser Stunde das einzige Fahrzeug auf dem Parkplatz. Die weiße Aufschrift auf blauem Grund war mit einem kleinen Globus verziert und gehörte zu einer polnisch klingenden Logistikfirma.
Anna sah ein, dass sie keine andere Wahl hatte, wenn sie bald von hier wegkommen wollte.
»Äh, entschuldigen Sie …«, begann sie, worauf der Mann sie verwundert ansah. Verstand er sie vielleicht nicht? Dummerweise konnte sie kein Polnisch, aber vielleicht Englisch?
Bevor Anna ihre Frage auf Englisch wiederholen konnte, fragte er: »Was ich kann tun für dich?«
»Fahren Sie zufällig an Berlin vorbei?«
»Du willst mitfahren?«, fragte der Mann und biss herzhaft in das belegte Brötchen, das er an der Theke gekauft hatte.
»Ja, wenn Sie mich mitnehmen können?«
O Mann, dachte Anna im Stillen, wenn ich das meiner Mutter erzähle, wird sie mir einen Vortrag halten wie damals, als ich das erste Mal an die Ostsee getrampt bin.
»Gut, komm mit. Ich nach Dresden fahre, da komme ich auch bei Berlin vorbei. Aber beeilen, ich habe nicht viel Zeit.«
Die habe ich auch nicht, dachte Anna und seufzte erleichtert auf. Und wenn er ein Sittenstrolch ist, kann ich ihm ja immer noch eins auf die Mütze geben, sagte sie sich.
»Vielen Dank, ich hole nur meinen Koffer.«
»Beeilen du, ich nicht viel Zeit.«
Anna nickte und lief dann zu der Sitzbank. Inzwischen hatten sich auch die anderen beiden Damen wieder eingefunden.
»Wie es aussieht, hat es geklappt«, stellte die Rosendame fest. Da die anderen nicht nachfragten, musste sie sie bereits eingeweiht haben.
»Ja, er will mich mitnehmen«, antwortete Anna, doch der leichte Anflug von Freude wurde sogleich von schlechtem Gewissen weggeknabbert. »Aber was wird aus Ihnen? Können Sie Ihr Heim irgendwie erreichen? Die können doch einen Wagen schicken und Sie abholen.«
Die drei sahen einander verschwörerisch an.
»Die Frage ist dabei nur …«, begann die Fliederfrau, und Butterblume setzte hinzu: »… ob wir das Heim überhaupt erreichen wollen.«
»Ich verstehe nicht«, entgegnete Anna, worauf die Rosendame sagte: »Na überlegen Sie doch mal, Kindchen, wie sieht unser Weihnachtsfest im Heim wohl aus? Wir werden mit den anderen herumsitzen, uns langweilige Sendungen anschauen und schließlich zu dritt irgendwohin verschwinden. Nicht, dass Letzteres uninteressant wäre, besonders lustig wird es jedes Mal, wenn wir uns an den Vorräten der Küche vergreifen und dann Insulinbingo spielen.«
»Insulinbingo?« Anna wusste jetzt schon, dass sie die alten Damen auf dem weiteren Weg vermissen würde. Auch Frau Hallmann hätten sie sicher gefallen.
»Ja, wir vergleichen am Ende des Heiligen Abends unsere Blutzuckertests. Wer den höchsten Wert hat, hat gewonnen.«
»Und wer es schafft, den Schwestern mit dem Wert einen gehörigen Schrecken einzujagen, bekommt Extrapunkte!«, merkte Butterblume an.
»Aber Ihre Kinder? Die werden Sie doch sicher besuchen kommen, oder?«, fragte Anna, während sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
»Ja, sie kommen für ein paar Stunden ins Heim, eine Familie nach der anderen oder zwei gleichzeitig«, antwortete Waltraud. »Auf die Idee, uns wegzuholen, ist aber noch keiner unserer Sprösslinge gekommen.«
»Besonders meine nicht«, setzte Butterblume, die entweder Gunda oder Beatrix hieß, giftig hinzu. »Mal abgesehen von meiner Mia, aber die hat einen stressigen Job, und ich will es ihr nicht zumuten, sich mit einer alten Frau wie mir herumzuschlagen. Da genügt es mir, dass sie sich regelmäßig blicken lässt.«
»Anfänglich waren wir natürlich ziemlich ärgerlich darüber, dass wir vergessen wurden«, sagte Flieder, die von ihren Kindern nicht verlangen würde, abgeholt zu werden. »Wenn man es genau nimmt, könnte man über einen Wechsel des Heims nachdenken. Aber wir haben viel zu viel Spaß miteinander, und Sie können sicher sein, dass wir dort bleiben werden.«
»He, Mädchen, du kommen, ich muss los!«, tönte die Stimme des polnischen Truckers durch den Raum.
»Ich komme!«, rief Anna und reichte den Frauen nacheinander die Hand.
»Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann mal wieder.«
»Wenn wir alle die Augen offen halten, sicher«, entgegnete die Rosendame und umarmte
Weitere Kostenlose Bücher