Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
vielleicht auch schon zu spät? Auf einmal wurde Anna furchtbar traurig. Wie hatte es so weit kommen können? Sie hatte ihre Mutter immer geliebt, ja, sie liebte sie auch jetzt noch. Aber sie kam nicht klar damit, dass sie ihren Vater einfach durch Gerd ersetzt hatte. Gerd, der keine Bücher mochte, gern mit Jogginghosen rumlief und versuchte, aus Jonathan einen »richtigen« Mann zu machen. Würde sich das jemals wieder normalisieren?
»Besteht denn die Hoffnung, dass Sie je wieder ein normales Verhältnis zu Ihren Söhnen haben?«, fragte Anna, insgeheim fast in eigener Sache, während sie spürte, dass ihr Verstand allmählich den Kampf mit der Müdigkeit verlor. Nur schemenhaft erkannte sie, dass die Zeiger der Uhr zwischen drei und vier standen. Eigentlich hätte sie längst versuchen sollen weiterzukommen …
»Die Hoffnung sollte man nie aufgeben, nicht wahr?«, gab Butterblume ein wenig spöttisch zurück. »Mein Verhältnis zu meiner Enkelin ist jedenfalls nach wie vor gut, sie besucht mich jede Woche und ist sich nicht zu schade, mit einer alten Frau spazieren zu gehen. Und mir Tipps zu geben, wie ich den Schwestern weiter auf den Wecker gehen kann. Wenn ich ehrlich bin, bin ich mittlerweile damit zufrieden. Ich bin nicht allein, weder im Heim noch in meiner Familie, meine Enkelin wird für mich sorgen, und ich weiß auch, dass sie da sein wird, wenn es mit mir zu Ende geht.«
»Daran solltest du aber noch nicht denken«, sagte die Rosendame und legte ihr die Hand auf den Arm. »Noch sind wir hier, und wir werden ein Weihnachtsfest feiern, wie wir es noch nie zuvor erlebt haben.«
»Und was ist mit deinem schönsten Weihnachtsfest?«, wandte sich die Fliederfrau an Anna, doch die hörte das nicht mehr. Sie war gegen die Rückenlehne gesunken und schnarchte leise.
15. KAPITEL
A ls Anna aus ihrem Schlummer erwachte, war es draußen bereits hell.
»Guten Morgen!«, empfing sie die fröhliche Stimme der Rosendame, die eigentlich Waltraud hieß, und zeigte Anna damit, dass sie die Begegnungen der Vornacht nicht nur geträumt hatte. »Haben Sie Lust auf einen Kaffee? Gunda und Beatrix sind gerade auf der Toilette, ich habe mich bereit erklärt, auf Sie aufzupassen.«
Anna erhob sich und rieb sich mit einem herzhaften Gähnen den Schlaf aus den Augen. Dann wurde ihr klar, dass heute der 24 . 12 . war – und sie saß noch immer an dieser gottverlassenen Raststätte.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Anna ein wenig benommen.
»Ach, nicht mal ganze sechs Stunden«, antwortete Waltraud.
»Sechs Stunden!« Annas Blick suchte die Uhr über dem Verkaufstresen. Die Zeiger rückten auf zehn Uhr. Waren das wirklich nur sechs Stunden gewesen?
Nie wieder Irish Coffee, dachte sich Anna, als sie sich mit der Hand übers Gesicht rieb und sich eine Spur getrockneter Spucke von der Wange kratzte.
»Ja, sechs Stunden waren es wohl. Vielleicht auch sieben. Auf jeden Fall haben Sie sich eine gesunde Mütze voll Schlaf geholt.«
»Aber … ich muss doch weiter. Nach Hause …« Anna ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Seltsamerweise war die Raststätte jetzt noch leerer als in der vergangenen Nacht. Wahrscheinlich sind sie jetzt alle schon zu Hause, stellen ihre Tannen auf und kochen Karpfen blau.
Ärger bohrte sich in ihren Magen.
»Der Reisebus hat Ihr Fehlen auch noch nicht bemerkt, habe ich recht?«, fragte sie und verfluchte im Stillen auch die Heimleitung, der die alten Damen egal waren. Wie konnte so was in diesem Land möglich sein?
»Nein, das haben sie wohl nicht. Und da wir keine Handys besitzen, können sie sich auch nicht bei uns melden.« So vergnügt, wie die Rosendame lächelte, schien sie darüber nicht sonderlich betrübt zu sein. »Aber wir werden schon irgendwie zurückkommen. Außerdem haben wir hier ja alles, was wir brauchen. Glauben Sie mir, im Krieg war es schlimmer. Hier gibt es Essen, Toiletten und Plätze zum Schlafen. Und die Raststätte wird nicht geschlossen. Um uns brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.«
Die Rosendame ließ ihren Blick schweifen, dann deutete sie mit dem Kopf über Annas Schulter.
»Vielleicht sollten Sie den Mann dort drüben fragen, er sieht so aus, als würde er gleich wieder aufbrechen wollen. Möglicherweise nimmt er Sie mit, viele Möglichkeiten, andere Wege einzuschlagen, hat er auf dieser Seite der Autobahn nicht.«
Anna sah sich um und erblickte den Trucker, einen Mann Mitte vierzig mit leicht schütterem Haupthaar und einem
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