Eine zweite Chance
fertig. Es gibt selbstgemachtes Eis und Moltebeerenkompott, tschüss dann, Helena.«
Sie drängte sich vor und ging in die Küche. Mit raschen Bewegungen räumte sie den Tisch ab, und die Anrichte füllte sich mit Abwasch. Es war komisch, dass die Teller umgetauft wurden, sobald sie gebraucht worden waren. Man deckte doch den Tisch nicht mit Abwasch? Und genauso war es mit den Kleidern. Sobald sie den Körper verließen, wurden sie Wäsche genannt, aber wieder zurück in Schubläden und Kleiderschränken waren sie wieder Kleider. Wieso Freund, daran ist doch nichts Komisches? Alle hatten ja verschiedene Geschlechter, Freunde also auch. Helena konnte man ihre Freundin nennen. Jedenfalls war das vor kurzem noch so gewesen. Sie versenkte die Teller im Spülwasser. Genau, sie wollte ja das Moltebeerenkompott holen. Am besten wurde es, wenn sie es ein bisschen anwärmte, und am einfachsten machte sie das in der Mikrowelle.
»Mama, komm lieber her und setz dich.«
»Ich will nur das Gröbste abspülen.«
»Das machen wir später, komm und setz dich.«
»Aber der Nachtisch. Wollt ihr nicht Eis mit Moltebeerenkompott haben? Ich hab beides selbst gemacht, das Eis und das Moltebeerenkompott, und in die Sahne habe ich ein bisschen Zitrone getan, damit …«
»Mama, bitte, komm und setz dich.«
Aber die Beine verweigerten ihren Dienst. Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter, eine unerwünschte Berührung. Susanna nahm ihr die Spülbürste aus der Hand.
»So. Ich mache das.«
Einer von den beiden, die am Tisch saßen, gab einen deutlichen Seufzer von sich. Sie weigerte sich, sich umzudrehen.
»Anna-Karin, es tut mir leid, dass Niklas es nicht über sich gebracht hat, es zu erzählen, bevor …«
»Sag nichts! Ich will nichts wissen.«
»Aber Mama, du kannst dich doch wenigstens für ein Weilchen hinsetzen.«
Der flehende Ton in Susannas Stimme ließ sie explodieren. Als wäre sie es, die etwas falsch gemacht hatte. Ein Zorn ohnegleichen brach hervor und brachte ihr Gesicht zum Glühen. Die Hände wurden in das Spülbecken gesenkt und umfassten den Tellerstapel. Im nächsten Moment lagen sie auf dem Boden, in Scherben und Splittern.
Sie drehte sich um, und sogar der Blick wehrte sich. »Wie kannst du es wagen hierherzukommen, hier an meinem Tisch zu sitzen, nach dem, was du Niklas angetan hast! Das musst du dir klarmachen, solche wie du, solche wie du sind in diesem Haus nicht willkommen.«
Niklas sprang vom Stuhl auf. »Jetzt hältst du den Mund, Mama, so etwas sagst du nicht zu Jonas, es geht nicht um ihn, es geht um mich.«
»Er hat dich hereingelegt, verstehst du das nicht?«
»Lieber Himmel, Mama, aus welchem Jahrhundert kommst du eigentlich?«
Jonas stand auf. »Ich lasse euch für eine Weile allein.« Er verließ die Küche, und sie hörten seine Schritte auf der Treppe nach oben.
»Wie lange treibst du das schon?«
Niklas schnaubte. »Du meinst, wie lange ich schon die Schwulerei betreibe, wie du zu sagen pflegst? Nun, ich war ungefähr elf, zwölf Jahre alt, als ich anfing zu ahnen, dass ich ein Homo war, oder krank im Kopf, wie ich glaubte. Es war wirklich ermunternd, musst du wissen, hier herumzuschleichen und dir zuzuhören. Erinnerst du dich zum Beispiel an den Alten, der erschlagen auf dem Parkplatz beim Fußballfeld gefunden wurde, der, von dem alle annahmen, er sei schwul? Alle wussten ja, dass es Rocker gewesen waren, die ihn erschlagen hatten, aber die Polizei führte keine ordentliche Untersuchung durch. Es hieß nur, er sei betrunken Rad gefahren und gestürzt. Und erinnerst du dich, was du gesagt hast? Erinnerst du dich? Du hast gesagt, er sei selbst schuld daran, so, wie er sich benahm.«
»Das habe ich nie gesagt.«
»Doch, hast du.«
»Ich war vierzehn, und von diesem Moment an zählte ich die Tage, bis ich von hier wegziehen konnte.« Anna-Karin schaute zu Boden. Da lagen sie in Scherben, die Teller ihrer Kindheit. »Damals, als ich das Bein gebrochen hatte und sagte, ich sei mit dem Motorroller gestürzt, bin ich das in Wirklichkeit nicht. Ich bin einen Abhang hinuntergefahren. Ich war verdammt nochmal bereit, alles zu tun, um dich nicht zu enttäuschen.« Er setzte sich auf den Stuhl und streckte sich nach dem Weinglas, nahm einen Schluck und schüttelte den Kopf. »Also, vielen Dank, Mama, aber nach einem Sommerhäuschen hier oben habe ich keine Sehnsucht. Ich bin nur unendlich dankbar dafür, dass ich lebend hier weggekommen bin.«
Anna-Karin ging zum Tisch und sank auf
Weitere Kostenlose Bücher