Eine zweite Chance
Vorwürfe, und Helena wich dem Blick der Tochter aus. Sie hatte nicht mehr die Kraft, das zu sehen, was mittlerweile immer da war, eine kaum verhüllte Spur von Verachtung. Sekunden vergingen, lang gezogen wie eine Bestrafung. Niemand schien mehr etwas sagen zu wollen. Drei schweigende Menschen und eine Lüge.
»Dann halt nicht.« Emelie stand auf und ging.
Helena schloss die Augen. In der Dunkelheit spürte sie ihren eigenen Puls. Die Herzschläge drängten sich in ihrer Brust. Es war, also ob sich etwas durch das rammen wollte, was um jeden Preis standhalten musste. Emelies Schritte auf der Treppe. Dieses gesegnete Geräusch aus ihrer Kindheit. Treu und unverändert. Wo ihre eigenen, abgehärteten Kinderfüße gelaufen waren und jede knarrende Stufe kannten. Die Kühe, die sie zum Melken holen durfte, die Hühner, die ihr Futter brauchten. Alle sich schlängelnden Waldpfade zu heimlichen Lichtungen, von denen nur Anna-Karin und sie wussten. Der Balken des Heubodens, auf dem sie balanciert waren. Der Kahn, den sie in der Dämmerung gerudert hatten, als auf dem See über Nacht Flaute herrschte. Vollendetes Kindheitsglück. Das schönste Geschenk, das sie ihrer Tochter machen konnte.
Der Tochter, die lieber an ihrem Computer sitzen wollte.
Die lieber in Stockholm wohnen wollte.
Das Geräusch der Eingangstür rettete sie. Blitzschnell fand der Gedanke einen Halt und steuerte auf einen sichereren Weg zu. Jemand betrat das Hotel, und das verlangte ihre Aufmerksamkeit. Eine geschützte Zeit mit einer deutlichen Richtung, verankert in etwas, das sie meistern konnte.
»Wie geht es dir?« Anders schaute sie mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht an.
»Ich muss nachsehen, wer es ist.« Sie stützte sich am Tisch ab, um aufzustehen, aber die Beine waren merkwürdig steif.
»Ich kann gehen, wenn du willst.«
»Das ist nicht nötig, ich friere nur so sehr.«
Denn jetzt zitterte ihr ganzer Körper, und das verlangte nach einer Erklärung.
»Setz dich, Helena, dann gehe ich. Anscheinend ist dir nicht ganz wohl.«
Sie nickte und versuchte ein Lächeln. Er stand auf und ging zum Entree.
Helena blieb sitzen, in der Annahme, dass sie für diesmal davongekommen war.
Es gab fast sieben Milliarden Gesichter auf der Welt. Seltsamerweise ließen sie sich alle voneinander unterscheiden. Es gab auch sieben Milliarden Stimmen, und obwohl ein halbes Jahr vergangen war, seit sie diese zuletzt gehört hatte, wusste sie sofort, wem sie gehörte.
Martin.
Ich bin Emelies Vater, aha, Sie sind Anders, hallo. Emelie hat Ihren Namen schon erwähnt.
Helena sitzt draußen in der Glasveranda.
Ich will nur eben schnell Emelie begrüßen. Ist sie oben?
Schritte auf der Treppe aus ihrer Kindheit, aber jetzt gab ihr das Geräusch keine Sicherheit. Martin war da, auf dem Weg hinauf zu Emelie.
»Es ist dein Ex, der gekommen ist.«
Anders’ Stimme ließ sie zusammenzucken, sie hatte ihn nicht kommen hören. »Warum ist er hier?«
»Was weiß ich, er ist zu Emelie hinaufgegangen.«
Helena schaute zur Decke. Hatte Emelie gewusst, dass er kommen würde? Alles war verwirrend. Sie beugte sich vor, die Ellenbogen auf dem Tisch, und verbarg das Gesicht in den Händen. Sie würde bald ersticken, wenn keine Luft hereinkam, in der Brust tat es so verzweifelt weh. »Ich kann das nicht, warum kommt er? Ich schaffe es nicht, ihn zu sehen.« Schön, dezent geschminkt, gut angezogen und mit sorgfältig frisierten Haaren. Unendlich oft hatte sie sich ihr Wiedersehen vorgestellt. Wie ungerührt und selbstverständlich sie alle Formulierungen aussprechen würde, die sie in schlaflosen Nächten bis zur Perfektion ausgefeilt hatte. Jetzt fiel ihr keine einzige mehr ein. Sie bekam nicht einmal ihre Wut zu fassen. Eigentlich ihre Kraftquelle, aber sie hatte aufgegeben.
Anders legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das, was du von der Bedenkzeit erzählt hast, vielleicht ist er hier, um dir rechtzeitig zu sagen, dass er es bereut hat.«
Die Worte durchfuhren ihren Körper. Das hatte er doch wohl nicht? Weiter konnte sie nicht denken, ehe sie zielstrebige Schritte auf der Treppe hörte, die weiter in den Speisesaal hineinkamen und sich immer weiter dem Stuhl näherten, auf dem sie saß.
Schon vernichtet.
Dann stand er da. Schlanker und mit einer neuen Frisur und anderer Kleidung. Ein alter Bekannter von früher, zu dem sie aber den Kontakt verloren hatte. Jemand, den sie nicht mehr so gut kannte und der auch sie nicht kannte. Es gab nichts
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