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Eine zweite Chance

Eine zweite Chance

Titel: Eine zweite Chance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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dem asphaltierten Hof versammelten, in viel zu dünnen Jacken, die aus den Ecken des Dachbodens hervorgeholt worden waren. Der Duft von erwärmter Erde und der kühle Abend, der zurückblieb, wenn die Sonne hinter den Mietshäusern untergegangen war. Nie war das Leben so nah wie damals, nie so voller Erwartung. Es war, als würde die Hoffnung selbst Anlauf nehmen, blind gegenüber allen Hindernissen. Der bevorstehende Sommer verwandelte sich auf einmal in ein einziges kribbelndes Versprechen.
    Diesmal war der Frühling willkommener denn je. Manchmal dachte sie, wenn nur ein Jahr vergangen war, würde sich alles besser anfühlen. Ein Herbst und ein Winter waren rasch überstanden, jetzt fehlten ein Frühling und ein Sommer, und dann wären alle Tage dieses Jahrs vorüber. Danach wäre es dann wieder »wie immer«. Sie und Emelie würden sagen können »letztes Mal haben wir es so gemacht«, und wenn sie wollten, konnten sie wieder dasselbe tun. Neue Traditionen mussten geschaffen werden, damit die anderen nicht mehr vermisst wurden.
    Ein paar hundert Meter weiter auf der anderen Seite der Straße lag der Hof der Anderssons. Helena sah, wie die Tür des rechten Wohnhauses geöffnet wurde und Anna-Karin auf die Treppe hinaustrat. Direkt daneben lag ein Haus, das fast genauso aussah. Anna-Karins kleiner Bruder Lasse wohnte dort mit seiner Frau. Zum Hof gehörten ein Stall und ein paar Scheunen. Während Helenas Kindheit war dieser Hof noch in Betrieb gewesen, im Besitz der Tante Helga, die gerade nach acht Jahren im Pflegeheim verstorben war. In dieser Zeit hatten die Kinder ihres Bruders in dem Erbhof gewohnt, doch zwischen den Häusern hatte es kaum viel Hin und Her gegeben. Anna-Karin hatte nicht viel für ihren Bruder übrig, schon gar nicht für ihre Schwägerin. Und soweit Helena es verstanden hatte, beruhten diese Gefühle auf Gegenseitigkeit. Doch sie hielt sich aus dem Konflikt heraus. Lasse kam zu ihr, wenn der Computer abstürzte, und den Winter über hatte er ihr beim Schneeräumen geholfen. Aber Anna-Karin war diejenige, die sie am besten kannte. Auch wenn es eine gut dreißigjährige Lücke in ihrer Bekanntschaft gab. Als sie als Kind die Sommer hier verbracht hatte, war sie ihre beste Freundin gewesen, von Juni bis August hatten sie zusammen gespielt, und Anna-Karin war mit ihren vier Jahren Vorsprung genauso spannend gewesen wie ein Abenteuerroman. Wo sie auftrat, gab es immer ein Drama. Sie besaß die Fähigkeit, einen gewöhnlichen Sturz mit dem Fahrrad zu einem lebensbedrohlichen Unfall zu machen, einen Fremden im Kaufladen zu einem Mordverdächtigen oder ein aufgefundenes Knochenstück zu einem Steinzeitfund. Mit Anna-Karin an ihrer Seite wurden alle Erlebnisse größer, und manchmal, wenn sie Helena erzählen hörte, was sie erlebt hatten, wunderte sie sich, wie viel ihr selbst entgangen war. Mit Anna-Karin war alles verlockend. Was sie hatte, wollte Helena auch haben, selbst wenn es in ihrem Besitz seinen Zauber verlor. Die gleichen Kleider, dieselbe Lieblingsfarbe und David Cassidy als Idol. Sogar den Dialekt hatte sie sich zugelegt, aber den hatte sie sich schnell wieder abgewöhnen müssen, um zu Hause in Vällingby nicht gehänselt zu werden. Zwischen den Sommerferien schrieben sie sich Briefe. Helena sammelte Flaschenpfand und sparte für schönes Briefpapier mit Bildern von Hunden und Katzen. Sorgfältig schrieb sie ihre Gedanken auf, um sie mit Anna-Karin teilen zu können. In Vällingby gab es keine wie sie, und jeden Morgen riss Helena ein Blatt vom Kalender, um verfolgen zu können, wie schnell die Zeit verging, bis sie sich wiedersehen würden. Die Wand über ihrem Bett war mit David Cassidy tapeziert, trotz der höhnischen Kommentare der Schwester von der anderen Seite des Zimmers, dass Helena ihn nicht einmal singen gehört hätte.
    Mit dem Unvermögen des Kindes, den Gang der Zeit zu begreifen, war sie völlig unvorbereitet gewesen, als plötzlich alles vorbei war. Sie war elf gewesen und Anna-Karin fünfzehn, und schon beim ersten Blick hatte sie begriffen, dass nichts mehr so werden würde wie zuvor. Helena war bereits am vorigen Tag mit dem Zug eingetroffen, doch Anna-Karin war nicht aufgetaucht. Erst gegen Abend des nächsten Tages wurde sie vom Knattern eines Mopeds zum Fenster gelockt. Dort hatte sie eine junge Frau mit Brüsten und Make-up gesehen, die ihre Arme um die Taille eines Teenager-Jungen gelegt hatte. Instinktiv hatte sie erkannt, dass sie ausgetauscht worden war. Für

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