Einem Tag in Paris
hieß, sich jemandem hinzugeben, sich aufzugeben, jemanden in sich aufzunehmen.
In jener Nacht war sie so laut, dass die Frau Simon am nächsten Morgen fragte: »War bei Ihnen alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, sagte Simon. »Es war alles wunderbar.«
»Woher wusstest du das?«, fragte sie Simon Wochen später. »Bei jenem ersten Mal. Woher wusstest du, was passieren würde, als wir uns in jener Nacht liebten?«
»Ich konnte nicht aufhören zu zittern«, sagte er. »Während des ganzen Essens. Auf der Fahrt zu der Hütte. Mein Körper war wie elektrisiert. Ich hatte so etwas noch nie gespürt.«
»Das ist dir noch nie passiert?«, fragte Josie.
»Du bist mir noch nie passiert.«
Josie und Nico schlemmen Muscheln und Pommes frites. Sie lecken sich die Finger ab, sie werfen Muschelschalen in die Schüssel, sie saugen Sauce mit herzhaften Brotkrusten auf. Als sie fertig sind, bringt ihnen die Bedienung einen knackigen grünen Salat und eine Käseplatte und noch mehr Brot, diesmal mit Walnüssen und Cranberrys gefüllt.
Nico erzählt Josie von seiner Kindheit in der Normandie auf einem kleinen Bauernhof, und wie er sich einmal mit Calvados betrank und im Rübenkeller einschlief. Als er am nächsten Morgen aufwachte, sah er, dass überall Polizei war, die das Grundstück des Hauses durchkämmte, mit Nachbarn redete, Hunde in den Wald führte.
Er versteckte sich einen ganzen Tag lang, und in der Nacht schlich er hinaus und wieder in den Wald. Ein paar Minuten später schlenderte er nach Hause, und seine Eltern stürzten auf ihn zu, um ihn zu umarmen.
»Wo warst du denn? Was ist passiert? Hat dich jemand mitgenommen?«, fragten sie.
»Ich weiß nicht«, sagte er.
Sie kamen zu dem Schluss, dass er irgendeine entsetzliche Erinnerung ausgeblendet hatte, und noch Jahre später behandelten ihn alle, seine Eltern, seine Freunde, die Nachbarn, als trüge er ein dunkles Geheimnis in sich. Sein Geheimnis war seine Schande – dass er in einer dunklen Ecke eingeschlafen war und so viel Lärm um nichts verursacht hatte.
»Hast du es ihnen je erzählt?«, fragt Josie. »Würden sie heute nicht gern wissen, dass dir nichts Schlimmes zugestoßen war?«
Nico schüttelt den Kopf. »Ich habe eine Reihe von Gedichten über diese Nacht geschrieben«, sagt er. »Eines Tages werden sie die Gedichte lesen. Aber selbst dann gibt es keine wahre Geschichte. Ich kann die Lüge nicht ungeschehen machen.«
Sie essen drei Sorten Käse – einen scharfen, fließenden Camembert, einen gereiften Ziegenkäse, der nach Erde schmeckt, und einen Roquefort, der Josie an ihren Vater erinnert, einen Mann, der gern schlichtes Essen isst und seinen Salat mit Blauschimmelkäse bestreut.
»Unsere Eltern kennen uns nicht«, sagt Josie. »Sie können uns gar nicht kennen. Wir verstecken uns vor ihnen. Früher wussten sie alles über uns, und um ihnen zu entkommen, behalten wir unsere Geheimnisse für uns, unser privates Ich.«
»Bist du deinen Eltern entkommen?«, fragt Nico.
»Ich musste. Ich war verzweifelt. Sie wollten, dass ich zur San José State University gehe und zu Hause wohne. Aber ich wollte einen Kontinent zwischen mir und ihnen haben. Ich fand sie altmodisch und ungebildet, und ich wollte – quelle horreur! – ein französisches Mädchen sein! Ich wollte kultiviert sein! Ich ging auf die Universität von New York, und ein Jahr später wurde meine Mutter krank. Ich hätte näher bei meinem Elternhaus bleiben sollen. Ich hätte mich in jenem Jahr um sie kümmern sollen. Mein Vater brauchte mich.«
»Du hättest sie nicht retten können.«
»Nein, aber ich hätte meinen Vater retten können.«
»Das bezweifle ich, Josie. Du hättest ihm vielleicht einen kleinen Teil seiner Bürde abnehmen können, aber du hättest nichts an dem geändert, was er verloren hat.«
Josie sieht ihn verblüfft an. »Woher weißt du das?«
»Ich höre dir zu. Ich stelle mir dein Leben vor.«
»Aber es ist mehr als das. Woher kennst du dich mit Trauer aus?«
»Ich weiß nicht«, sagt Nico. »Meine Eltern sind beide am Leben. Ich habe nie jemanden verloren, den ich geliebt habe. Ich glaube einfach, dass ich mich mit dir auskenne.«
»Ist es, weil wir Fremde sind? Ich kann dir von Simon erzählen, und du kannst mir von deiner Nacht in diesem Keller erzählen. Wir werden wieder verschwinden. Es hat nichts zu bedeuten. Es ist, wie wenn man im Flugzeug mit einem Fremden redet.«
»Nein. Ich bin hier. Ich höre bei allem zu, was du sagst.«
Josie
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