Einem Tag in Paris
sieht sich in dem Restaurant um. Lange Zeit war das Gesprächsgemurmel der anderen Leute für sie fast verstummt, zusammen mit dem Klappern von Besteck, den leisen Klängen eines Violinkonzerts. Sie hat die Welt verloren und Nico gefunden – keinen Liebhaber, nicht einmal einen Freund für eine Nacht oder zwei, aber jemanden zum Reden.
»Danke«, sagt sie.
»Glaub bloß nicht, dass ich das für all meine Schüler tue«, sagt er lächelnd.
»Du hast nicht einmal mein Französisch verbessert.«
»Dein Französisch ist perfekt.«
»Jetzt lügst du aber. Lass uns heute keine Lügen erzählen.«
»Dann solltest du deine Vokale präziser aussprechen. Sie fließen meistens irgendwo zwischen den Konsonanten.«
»Wirklich?«
»Ich würde nicht lügen.«
»All die Jahre habe ich Französisch mit fließenden Vokalen gesprochen?«
»Du hattest niemanden, der dir gezeigt hat, wie es richtig ist.«
Josie senkt den Blick, auf einmal verlegen. Er ist vernarrt, und sie wird ihn verlassen. Sie hat ihm eben versprochen, nicht zu lügen. Und doch liegt eine Lüge in allem, was sie heute miteinander teilen. Weil sie nicht mit ihm in die Provence fahren wird. Es ist eine andere Josie, die auf den nächsten Zug springen und sich mit diesem blauäugigen Franzosen in einer couchette zusammenrollen könnte. Diese Josie hier – die, die Simon verloren und ihren Job aufgegeben hat, die ihren Vater belogen hat und allein nach Frankreich geflogen ist –, diese Josie ist zu nicht mehr fähig als zu einem Tag mit einem französischen Privatlehrer.
Aber sie hat endlich wieder eine Mahlzeit gegessen und ein Gespräch geführt.
»Ich werde mein Geld nicht von der Schule zurückverlangen«, sagt sie zu Nico. »Du hast mir doch etwas beigebracht.«
»Wir sind noch nicht fertig«, sagt er.
Simon rief sie in der Schule an, obwohl sie ihn gebeten hatte, es nicht zu tun. Sie konnte sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie flüsterte in ihr Handy: »Ich kann jetzt nicht reden. Ich habe in zwei Minuten Unterricht.«
»Triff mich am See«, flüsterte er zurück. »Um vier.«
»Ich kann nicht«, sagte sie zu ihm. »Ich habe Beratungsstunde.«
»Sag sie ab.« Er legte auf, völlig sicher, dass sie ihren Job aufs Spiel setzen würde, um ihn zu sehen. Sie sagte den Termin ab. Sie hatte schon so viele Termine abgesagt, sie war den Fußballtrainings ferngeblieben, obwohl sie die Assistenztrainerin sein sollte, und sie hatte ihrer fortgeschrittenen Schauspielklasse gesagt, dass sie ihre Einakter allein vorbereiten sollten und sie sich in der letzten Woche einschalten und sie mit ihnen durchgehen würde. Nach drei Jahren als Starlehrerin war sie auf einmal die Niete, die Null. Immer wieder sagte sie sich, dass sie es wieder ausbügeln würde – diese Affäre konnte nicht ewig so weitergehen –, und außerdem brauchte sie Simon mehr als diesen Job. Es gab noch andere Jobs.
Sie traf ihn an dem See, an dem sie ihre Affäre begonnen hatten, mit dem Auto eine Stunde von der Schule entfernt. Sie waren seitdem ein paarmal wieder dort gewesen, und Simon hatte immer um dieselbe Hütte gebeten. Es war für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl, und niemand wollte diese Buden mieten, daher hätte diese grässliche Frau, die den Betrieb führte, froh sein sollen, überhaupt etwas Geld zu bekommen. Aber stattdessen stellte sie Simon jedes Mal dieselbe Frage: »Ist das Ihre Tochter?«
Josie hatte das Büro nie betreten, hatte der Frau nie Auge in Auge gegenübergestanden, aber sie spürte den Blick der Frau jedes Mal in ihrem Rücken, wenn sie kurz darauf zu ihrer Hütte eilten.
»Irgendwann demnächst werde ich mit dir zu einem Friseur fahren und dir eine Erwachsenenfrisur schneiden lassen«, sagte Simon. »Ich werde dir Stöckelschuhe kaufen, und wir werden diese albernen roten Dinger in den See werfen. Ich werde dir einen Kaschmirpullover und Stoffhosen kaufen.«
»Und dann wirst du das Interesse an mir verlieren«, sagte Josie. »Ich würde so aussehen wie all die anderen Frauen, die du kennst. Deine Frau und die Freundinnen deiner Frau. Deine Geschäftspartnerinnen.«
»Meine Frau …«
»Entschuldige«, sagte Josie. Das unausgesprochene Gesetz. Die unausgesprochene Ehefrau. Das Tabuthema. Halt sie heraus aus dem Schlafzimmer, der Blockhütte, dem Motelzimmer, dem Futon mitten auf dem Feld.
»Komm her«, sagte Simon, und sie kam in seine Arme, was sie beide zum Schweigen brachte.
Josie begann ihn zum Bett zu ziehen, aber er
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