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Einem Tag in Paris

Einem Tag in Paris

Titel: Einem Tag in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Sussman
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Penseur – hoch aufragend über den bloßen Sterblichen unter ihm. Andere Skulpturen sprenkeln die Landschaft, aber Josie achtet nicht auf sie. Sie liebt das grüne Wasser in dem Bassin, den weitläufigen grünen Rasen, die Fülle grüner Blätter in den Baumreihen. Eine Brise bewegt die Luft rings um sie und bringt den Geruch frisch gemähten Grases mit sich. Sie ist in ihre grüne Decke gewickelt.
    »Ich habe das Buch so oft gelesen, dass ich die ersten Absätze vermutlich noch immer auswendig aufsagen könnte«, sagt Josie. »Aber ich werde es dir ersparen. Es ist eine seltsame kleine Geschichte. Ein junges Mädchen verliert seine Eltern auf dem Champ de Mars. Sie sucht überall nach ihnen – und kommt dann zu dem Schluss, dass sie ohne sie den Eiffelturm hochgestiegen sind. Aber sie hat Höhenangst. Sie kann ihnen nicht folgen. Daher wartet sie und wartet. Schließlich beginnt es dunkel zu werden, und ihre Eltern sind noch immer nicht wiedergekommen. Mit ängstlichem Herzen beginnt sie die Stufen des Turms hochzusteigen.«
    »Warum nimmt sie nicht den Aufzug?«
    »Es gibt nur Treppen. Das ist Fiktion.«
    »Natürlich.«
    »Sie steigt und steigt, und je höher sie hinaufsteigt, umso mehr bekommt sie es mit der Angst zu tun. Aber sie kann nicht mehr zurück. Sie muss entscheiden, was beängstigender ist – ein Leben ohne ihre Eltern oder der Aufstieg bis zur Spitze des Turms. Sie steigt weiter. Der Himmel verdunkelt sich, die Nacht senkt sich herab, bald gehen alle Lichter der Stadt an, und unter ihr scheinen ebenso viele Sterne wie über ihr. Sie hat in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so Wunderschönes gesehen. Sie vergisst, dass sie Angst hat, und läuft bis zur Spitze des Turms hoch. Dort umrundet sie die Aussichtsplattform, sieht zum Himmel hoch und dann hinunter auf die Straßen der Stadt mit den ganzen strahlenden Lichtern. Sie hat keine Angst – sie ist im siebten Himmel.«
    Josie hält inne und holt einmal tief Luft. Ihr Magen verkrampft und entspannt sich.
    »Alles okay mit dir?«
    »Alles bestens.«
    »Und das Mädchen oben auf dem Eiffelturm?«
    »Ein Wachmann kommt auf sie zu. ›Mademoiselle‹, sagt er. Ich liebte dieses Wort, als ich klein war. Es war mein erstes französisches Wort. Mademoiselle. ›Oui, monsieur‹, sagt sie. Sie ist ein sehr gut erzogenes Mädchen.«
    »Ist sie Amerikanerin?«
    »O nein. Sie ist sehr französisch. Sie lebt am Rand des Champ de Mars, und doch ist sie noch nie den Eiffelturm hochgestiegen. Und jetzt ist sie hier. Und sie kann ihre ganze Stadt unter sich sehen.«
    »Und ihre Eltern?«
    »Du bist aber auch ungeduldig«, schilt ihn Josie. »Der Wachmann sagt ihr, dass der Turm jetzt schließt und dass sie wieder hinuntersteigen muss. Sie sagt ihm, dass sie ihre Eltern verloren hat. Er verspricht ihr, dass sie am Fuß des Turms auf sie warten werden. Daher steigt sie die vielen, vielen Stufen wieder hinunter, so glücklich wie nie, da sie keine Angst mehr vor irgendetwas hat. Am Fuß des Turms kommt sie wieder heraus, und da ist Paris und alles, was sie je gekannt hat, aber jetzt sieht das alles auf eine zauberhafte Weise anders aus. Sie kann ihre Eltern nirgends sehen, und sie springt nach Hause, während sie sich ein Leben ohne Eltern vorstellt. Vielleicht wird sie nie wieder zur Schule gehen! Vielleicht wird sie den Jungen küssen, den sie mag! Vielleicht wird sie die violetten Strumpfhosen tragen, die ihre Mutter hasst! Als sie zu ihrem Haus kommt, sieht sie hoch in das Fenster ihres Wohnzimmers, und da sieht sie ihre Eltern stehen, unter dem hellen Kronleuchter, und sie schauen hinaus. Sie sehen sie nicht. Sie wirft einen Blick zurück zum Eiffelturm. Er funkelt im Licht. Er strahlt förmlich. Als sie zurück zu ihrem eigenen Haus schaut, gehen die Lichter aus.«
    Josie lächelt und legt die Hände auf ihren Bauch.
    »Das ist das Ende?«, fragt Nico.
    »Das Ende. In großen, schnörkeligen Buchstaben. La fin.«
    »Ist das ein französisches Buch?«
    »Natürlich. Wenn es ein amerikanisches Buch wäre, dürfte das Mädchen niemals allein die Stufen hochsteigen, und der Wachmann hätte sie zur Polizei gebracht, und selbst wenn sie weggelaufen und nach Hause gekommen wäre und ihre Eltern im Fenster gesehen hätte, wäre sie zu ihnen gerannt und hätte ihnen versprochen, nie wieder verloren zu gehen.«
    »Du meinst, das war’s? Sie kehrt nicht mehr nach Hause zurück?«
    »Es ist nicht klar. Vielleicht ja. Vielleicht nein.«
    »Ich finde, das ist eine

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