Einem Tag in Paris
mein Gott. Jeder hat heutzutage Krebs. Ihre Mutter definiert »zähes Biest« neu, und Riley definiert Weichei neu. »Und jetzt stürz dich in deinen Tag!«, hat ihre Mutter ihr befohlen. Dann ist das jetzt eben ihr Tag. Stürz dich hinein!
Sie sieht sich in dem Café um. Es ist brechend voll, obwohl es mitten am Vormittag ist. Ist Vic der Einzige, der in dieser Stadt arbeiten geht? Alle anderen scheinen den ganzen Tag in Cafés zu sitzen und endlos Espresso zu trinken, bis sie anfangen, Wein zu trinken. Sie sind tadellos gekleidet, als würden sie irgendwann doch entweder ins Büro oder zu einer Filmpremiere gehen. Eine Frau trägt ein Kostüm mit Leopardenmuster, hauteng, mit zehn Zentimeter hohen Absätzen. Vermutlich auf dem Weg, ihre Kinder abzuholen und in den Park zu gehen, denkt Riley.
Die Tür geht auf, und Philippe schneit herein.
Er ist groß und schlaksig, gut aussehend im Stil eines verlebten Rockstars. Zu viele Drogen, zu viele harte Nächte. Es steht ihm gut. Sein Haar fällt ihm ständig in die Augen, und Riley verbringt einen Großteil ihrer Französischstunden damit, sich etwas ganz Einfaches vorzustellen: Sie streckt eine Hand aus und steckt ihm dieses entzückende Haar hinters Ohr. Aber heute ist es ein bisschen fettig. Vielleicht wird sie dann heute im Unterricht besser aufpassen.
»Je suis désolé«, sagt er atemlos. Sie riecht Zigaretten und Kaffee und noch irgendetwas – Sex? Seine Kleidung ist zerknittert. Ist er aus dem Bett seiner Freundin hierhergestürzt?
Sie lächelt ihn an. Sie könnte so etwas sagen wie »Kein Problem« oder »Sie riechen ja so gut – was ist das denn?«, aber ihr fehlen die Worte.
Als er vorhin an sein Handy gegangen war, hatte sie auf Englisch angefangen zu reden. »En français«, ermahnte er sie. Und so nannte sie ihm den Namen und die Adresse des Cafés und eine Uhrzeit. Das war alles. Sie kam sich ein bisschen wie eine Spionin vor, die nur die entscheidenden Informationen preisgab. Kein Smalltalk für sie. Sie hat eine internationale Verschwörung im Kopf!
»Bon«, sagt er, nimmt auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz und holt seine Bücher aus seiner reichlich ramponierten ledernen Kuriertasche. Er bestellt etwas bei dem Kellner, der etwas erwidert, dann wendet er sich zu ihr um und lächelt.
Sie lächelt zurück.
Er stellt ihr eine Frage.
Sie lächelt zurück.
Er schüttelt den Kopf, entfesselt diese Mähne. Sie wendet den Blick ab.
»Bon«, sagt er noch einmal. Obwohl gar nichts gut ist. Selbst der Kaffee schmeckt nach verbrannter Zunge.
»Okay, hören Sie«, sagt sie auf Englisch. »Vielleicht sollten wir es anders anpacken. Vielleicht sollten wir uns erst einmal ein bisschen kennenlernen, etwas finden, worüber wir beide gern reden würden – ich meine, ich weiß gar nichts über Sie –, und dann könnten wir, ich weiß auch nicht, darüber reden. Auf Englisch. Und dann würde ich irgendwann französisch reden, weil es einfach so interessant wäre, dass die französischen Wörter wie von selbst den Weg in mein kleines Gehirn finden und dann aus mir heraussprudeln würden. Was meinen Sie?«
»En français«, sagt er. Aber er lächelt. Entweder ist er einfach ein netter Typ, oder er hat jedes Wort verstanden, das sie gesagt hat.
Das ist der andere Punkt. Sie weiß nicht, wie sie aus den Leuten hier schlau werden soll. Zu Hause in den Staaten hatte sie feine Antennen – an der Art, wie die Leute redeten, wie geistreich sie waren, wie aufmerksam und bissig und ironisch, konnte sie heraushören, wen es sich lohnte kennenzulernen. Sie wählte ihre beste Freundin danach aus, dass die Frau verblüffende Metaphern verwendete, die sie sich spontan ausdachte. Sie wählte ihren ersten Freund danach aus, dass er den Soziologieprofessor mit seinen geckenhaften Eigenarten so gekonnt auf die Schippe nahm. Sie wählte ihren Ehemann danach aus, dass er der erste Typ war, der sie beim Scrabble schlug. Sie stellt sich eine Partie Scrabble mit Philippe vor. Wie oft könnte sie das Wort bon verwenden?
Und ganz abgesehen von den Wörtern – sie hat die kulturellen Hinweise verloren! Ist Philippes Hemd cool oder lächerlich? Es ist irgendwie glänzend – das würde in New York nicht durchgehen. Und er trägt einen Ohrring, der wie ein Kreuz aussieht, aber es könnte auch ein X sein. Hat das etwas zu bedeuten? Ist er charmant oder unheimlich? Egal. Sie sieht ihn gern an. Er sieht gut aus, und das scheint sich in jede Sprache leicht genug übersetzen zu
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