Einem Tag in Paris
mir gefällt dieses Leben? Meinst du etwa, ich will Tag und Nacht rund um die Uhr arbeiten?«
»Ja«, sagte Riley.
»Das ist doch lächerlich«, fauchte Vic. »Ich muss ein Team mit Leuten aus vier verschiedenen Ländern auf die Beine stellen, und die meisten von ihnen hassen sich. Ich selbst kann kaum die Hälfte von ihnen verstehen. Meinst du etwa, ich würde nicht lieber in dem Park am Place des Vosges sitzen und Sandburgen bauen?«
Er stand in seiner Pyjamahose im Bad; sein nackter Bauch war weich und blass geworden. Er fuchtelte mit seiner Zahnbürste durch die Luft wie ein entschlossener Badezimmerkrieger. Riley sah ihn an und dachte: Von allem, was du sagst, ist genau das Gegenteil der Fall. Du liebst es, der große Boss zu sein, der ein internationales Team aufstellt. Du hasst den Sand.
»Reiß dich zusammen, Riley«, sagte er, während er Zahnpasta ins Waschbecken spuckte.
Und wann hatte er eigentlich angefangen, Pyjamahosen zu tragen? Für einen Moment verspürte Riley das Bedürfnis, auf Vic zuzugehen, ihm die Hose herunterzuziehen, ihren Körper um ihren nackten Ehemann zu schlingen und zu flüstern: »Komm zurück zu mir.« Aber er drängte an ihr vorbei in die Küche, um sich noch einen Brownie zu nehmen, den letzten Rest aus einem Paket mit diversen Leckereien, das ihre Mutter ihr ein paar Tage zuvor geschickt hatte.
Riley riecht an Gabrielles Kopf. Es ist ein perfekter Babygeruch, und ihr fällt wieder ein zu atmen.
Das Telefon klingelt, sie zuckt zusammen, und Gabis Mund rutscht von ihrer Brust und reißt ihre Brustwarze mit. Sie schreit auf, und das Baby weint. Aber das Telefon hat aufgehört zu klingeln. Dann kommt Cole ins Zimmer, das Telefon in der Hand. Er lächelt. »Nana«, sagt er.
Er ist noch nie ans Telefon gegangen. Sie staunt. Demnächst wird er sich eine Krawatte umbinden und um sieben Uhr morgens zur Arbeit gehen, so wie all die anderen zuverlässigen Leute in diesem Haushalt.
»Mom?«, sagt sie ins Telefon. Sie rechnet schnell nach – in Florida ist es ein Uhr morgens.
Ihre Mutter weint – oder sie macht ein schluckendes Geräusch, als würde sie versuchen, nicht zu weinen.
»Was ist los?«
Sie ist nicht so sentimental, dass sie weinen würde, weil ihr Enkel zum ersten Mal ans Telefon gegangen ist.
»Mom?«
»Ich will dich nicht damit behelligen …«
»Womit?«
»Ich wollte dir nicht einmal sagen, dass bei mir Untersuchungen gemacht wurden …«
Und Riley weiß alles, was sie wissen muss. Ihr Vater ist vor Jahren an Krebs gestorben, und irgendwie wartet sie darauf, dass alle anderen, die sie kennt, ebenfalls Krebs bekommen und sterben werden. Im Fernsehen überleben die Leute; in Rileys Leben sterben sie. Sie weint leise, ein steter Strom von nassem Zeug, der ihr übers Gesicht läuft.
»Mama?«, fragt Cole.
»Mom?«, fragt Riley.
»Mama?«
»Psst, Schatz. Es ist alles in Ordnung«, flüstert Riley. Oder vielleicht war das auch ihre Mutter, die ihr zuflüsterte. Sie drückt das Baby zu fest.
»Was denn für Untersuchungen?«, fragt sie schließlich.
»Eierstockkrebs.«
»Das hättest du mir sagen sollen.«
»Ich sage es dir jetzt.«
»Ich komme nach Hause.«
»Du kommst nicht nach Hause.«
»Mom.«
»Mama?« Cole klopft ihr auf die Schulter. Sie sieht hinunter. Gabi sitzt nur noch mit einem Bein auf ihrem Schoß und ist im Begriff, auf den Boden zu fallen. Wie kommt es, dass Riley dieses Bein zu fassen bekommen hat? Und warum lacht das Baby, als ob das hier eine Art Spiel wäre?
»Entschuldige, Schatz«, sagt Riley und zieht Gabi wieder hoch und in Sicherheit. Aber es gibt keine Sicherheit. Gabi übergibt sich in Rileys Schoß.
»Mom, ich rufe dich zurück.« Und sie legt auf.
Sie hält Gabi in die Luft. Erbrochenes sammelt sich in ihrer Pyjamahose. Und Cole tätschelt ihr die Schulter. »Ist schon gut, Mama.«
Bald wird sie das Geschmiere wegputzen und ihre Mutter zurückrufen.
Bald wird Cole einen französischen Zeichentrickfilm im Fernsehen finden und ihn sich zufrieden ansehen, so als ob er jedes einzelne Wort dieser verdammten Sprache versteht.
Bald wird sie Vic anrufen und ihn fragen, warum er eine Frühstücksbesprechung einberufen musste, wenn er doch gestern Abend eine Dinnerbesprechung hatte und heute Abend wieder eine Dinnerbesprechung haben wird.
Bald wird sie jeden Kinderarzt in dem Handbuch anrufen, das ihr Immobilienmakler ihr gegeben hat, und jede hochnäsige Sprechstundenhilfe fragen: »Parlez-vous anglais?«, bis sie jemanden
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