Einem Tag in Paris
Blick auf seine Umgebung ist schärfer geworden, lebendiger. Er fühlt sich anders in seiner Haut. Er ist jemand anders, wenn er französisch spricht – ein interessanterer, geheimnisvollerer Mensch. Es ist belebend, als ob er an diesem neuen Ort zu allem fähig ist.
Er konnte eine Frau bei der Hand nehmen und sie auf die Tanzfläche führen.
»Auf dem Weg zum Museum«, sagt Chantal, »sollten Sie mir von Ihrer Stieftochter erzählen.«
Einen Augenblick lang wünschte Jeremy, sie könnten schweigend gehen. Aber das ist absurd – das hier ist schließlich eine Französischstunde.
Er hat Chantal gern neben sich, ihren hochgewachsenen, schlanken Körper, so ungewohnt für ihn, nachdem er jahrelang neben Dana gegangen ist, die zierlich und kompakt ist, eine Art Miniaturfrau, die in Bewegung zu sein scheint, selbst wenn sie stillsteht. Er sollte seine Frau nicht mit seiner Privatlehrerin vergleichen – er hat schließlich nichts mit dieser jungen Frau –, aber er ist die Aufmerksamkeiten einer Frau nicht mehr gewohnt. Sie wird dafür bezahlt, ruft er sich in Erinnerung. Seine Frau bezahlt sie dafür, dass sie mit ihm zusammen ist. Der Gedanke schlägt ihm augenblicklich auf die Stimmung.
»Lindy ist die Tochter meiner Frau«, sagt Jeremy. »Ich bin in ihr Leben getreten, als sie neun war.«
»Und Sie stehen sich nahe«, sagt Chantal. »Ich kann etwas in Ihrem Gesicht sehen, wenn Sie von ihr sprechen.«
»Ich liebe sie«, sagt er schlicht. Das ist die Wahrheit. Er hatte nie Kinder haben wollen, und als Dana ihm sagte, sie hätte ein Kind, hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, die Beziehung zu beenden. Er war fünfunddreißig, als sie sich kennenlernten, und jede Frau, mit der er ausging, wollte ein Baby – auf der Stelle –, unabhängig von Liebe oder Kompatibilität. Dana sagte ihm, sie wolle nicht noch ein Kind, aber sie hoffe, er würde diese vorgefertigte Familie wollen. Lindy war eine Ausgabe ihrer Mutter in Kindergröße, dieselbe Art Ausstrahlung, dieselbe Art Charme. Er war doppelt vernarrt.
Und im Laufe der Jahre lernte er, dem Mädchen ein Vater zu sein. Ihr richtiger Vater war ein Vermögensverwalter, spezialisiert auf internationale Immobilien – er war ständig in Singapur, Tokio, Sydney. Lindy hatte ein Zimmer voller Souvenirs, aber kein Bild ihres Vaters auf ihrem Schreibtisch. Stattdessen rahmte sie sich ein Foto von ihnen dreien ein, das vor vier oder fünf Jahren in Costa Rica aufgenommen worden war. Darauf ist zu sehen, wie sie auf einem Floß den wilden Pacuare-Fluss hinunterfahren, in orangefarbene Rettungswesten gepackt, umgeben von dem dichten grünen Dschungel. Dana steht vorn auf dem Floß, die Augen weit aufgerissen vor Staunen, als ein plötzliches Gefälle des Flusses sie fast das Leben kostete, und hinter ihr lehnt sich die sechzehnjährige Lindy gegen Jeremy, und beide lächeln vor purer Freude.
Jeremy erzählt Chantal von Lindys kürzlicher Rebellion – sie brach das College ab und tauchte für eine Weile unter, was ihre Mutter rasend machte. Jeremy erhielt hin und wieder E-Mails von Lindy, in denen sie schrieb: »Es geht mir gut. Ich muss das machen. Sag Mom, sie soll nicht zu sehr ausflippen. Ich liebe dich.« Jeremy kann »ausflippen« nicht übersetzen, daher sagt er das Wort auf Englisch, und Chantal scheint es zu verstehen. Witzig. Er weiß nicht einmal, ob seine Privatlehrerin Englisch spricht.
»Ich denke, sie muss ihren eigenen Weg finden«, sagt Jeremy. »Ihre Mutter ist sehr erfolgreich. Ich nehme an, das macht es ihr schwer, zu wissen, wo es für sie hingehen soll.«
»Will sie auch Schauspielerin werden?«, fragt Chantal.
»Ja«, sagt Jeremy. »Und ich kann ihr nicht sagen, dass sie es lieber lassen soll.«
»Hat sie Talent?«
Jeremy nickt. Einen Augenblick lang überstürzen sich seine Gedanken, ein Schwall übersetzter Worte, die sich ineinander verkeilen. »Ich weiß das Wort auf Französisch nicht. Sie hat Talent, aber nicht die Aggressivität – nein, den Geist –, ich kann es nicht erklären.« Aggressivität, denkt er. Was für ein hässliches Wort für das, was seine Frau antreibt. Antrieb, das ist es. Aber er ist zu verwirrt, um zu versuchen, sich zu erklären.
»Sie ist erst zwanzig«, sagt Chantal. »Die meisten von uns haben in dem Alter noch keine Richtung gefunden.«
»Wie alt sind Sie denn?«, fragt Jeremy. Kaum hat er es gesagt, will er es zurücknehmen. Es klingt, als hätten sie ein Date oder so.
»Achtundzwanzig«, sagt
Weitere Kostenlose Bücher