Einem Tag in Paris
vertraue ich dir so, wie ich es tue«, fügte Dana hinzu.
»Meine Stieftochter würde sich gern auf einen Kaffee mit uns treffen«, sagt Jeremy auf Französisch zu Chantal, während sie auf den steilen Hügel der Rue Mouffetard zugehen. Jeremy kann die lange Reihe der Lebensmittelstände vor ihnen sehen; er kann einen Mann rufen hören: »Cerises! Melons!« Chantals Französisch kann Jeremy erstaunlich leicht verstehen, aber bei starken Akzenten oder einem Schnellfeuer-Wortschwall ist er verloren.
»Wie alt ist Ihre Stieftochter denn?«
»Sie ist zwanzig«, sagt Jeremy. »Sie hat mir heute Morgen eine Nachricht dagelassen. Ich habe noch gar nicht mit ihr gesprochen. Sie ist irgendwann mitten in der Nacht angekommen. Wenn Sie meinen, dass es zu viele Umstände machen würde …«
»Nein, nein, ganz und gar nicht«, sagt Chantal. »Ich würde sie sehr gern kennenlernen.«
Jeremy wirft einen Blick auf Chantal. Sie ist anmutig, elegant, eine richtige junge Pariserin. Auf einmal kann er sie sich neben der wilden Lindy gar nicht vorstellen. Er hört laute Stimmen vor ihnen und wendet seine Aufmerksamkeit dem Markt zu. Er ist sich nicht sicher, dass er sich unter den Lärm und Trubel mischen will – zum ersten Mal überlegt er, ob er etwas anderes vorschlagen soll als das, was Chantal geplant hat. Eine stille Straße, irgendwo, wo sie reden können, ohne zu brüllen. Sie könnten über ihr Leben reden, etwas, was sie die ganze Woche noch nicht getan haben. Wer ist diese Frau? Er will sie kennenlernen – wo sie her ist, wo sie jetzt lebt, was sie im Leben will.
Warum sollten sie nicht über Herzensangelegenheiten sprechen? Auf Französisch! Er hat immer gewusst, dass sein Französisch gut ist, aber er neigt nicht dazu, ein Risiko einzugehen, vor Fremden unsichere Sätze auszuprobieren. Und er will sich nicht gern blamieren. Bei Chantal scheinen ihm die Sätze formvollendet über die Lippen zu kommen, als hätte er fünfundzwanzig Jahre lang, seit seinem Französischunterricht auf dem College, darauf gewartet, mit dieser Frau zu sprechen.
Und natürlich, wenn sie nach Paris kommen, ist es immer Dana, die das Reden übernimmt. Sie hat ein Jahr an der Sorbonne studiert und sich in einen Algerier verliebt, der mit ihr an die Universität von Los Angeles zurückkehrte und bei ihr in ihrer Studentenbude lebte, bis ihre Eltern dahinterkamen und ihn rauswarfen. Dana sieht sogar französisch aus – oder vielleicht liegt es auch nur an den kurzen Röcken und den schwarzen Strumpfhosen, die sie immer trägt. Sie drängt Jeremy, französisch zu sprechen, wenn sie einkaufen oder essen gehen, aber er stellt jedes Mal fest, dass es zu lange dauert, die richtigen Worte zu finden. Schließlich schaltet sie sich ein und hilft ihm weiter.
»Kaufen Sie mir ein Gebäckstück, monsieur?«, fragt Chantal, und das ist der erste Stand, an den sie kommen, ein Stand mit Backwaren, die in appetitlichen Reihen angeboten werden – Croissants, Brioches, pains aux amandes, pains au chocolat, éclairs, palmiers.
»Was hätten Sie denn gern?«, fragt er Chantal. Es erscheint ihm verblüffend intim, dieser schlichte Akt.
Sie sieht einen Augenblick lang auf die Auslage und deutet dann auf etwas.
»Deux palmiers, s’il vous plaît«, sagt er zu dem Bäcker. In seiner Stimme liegt kein Zögern – er klingt nicht wie ein Tourist, der sich nicht sicher ist, ob er es richtig gesagt hat. Wenn er französisch spricht, ist seine Stimme im Allgemeinen zu leise, und er wird gebeten, es noch einmal zu wiederholen. Ganz einfach, denkt er. Es ist alles eine Frage des Selbstvertrauens.
Der Bäcker ist ein Mann in seinem Alter, zu schlank, um sehr interessiert an seinen eigenen Kreationen zu sein. Er beäugt Chantal und lächelt Jeremy dann an. Dafür braucht Jeremy keine Übersetzung.
Er bezahlt die Gebäckstücke und wendet sich zu Chantal um.
Sie sieht weg. Hat sie den anerkennenden Blick des anderen Mannes bemerkt? Auf einmal ist sie schüchtern vor Jeremy.
»Erzählen Sie mir von dem Essen.« Jeremy zeigt die Straße hoch auf die Stände, die die schmale Straße säumen. »Wir werden später über meine Stieftochter reden.«
Es erscheint ihm seltsam treulos, über Lindy zu reden. Sie gehört zu seinem Leben mit Dana. Und sie ist kompliziert. Sie hat die Schule abgebrochen, redet nicht mehr mit ihrer Mutter und hat Jeremy in ihre Geheimnisse hineingezogen. Die Tatsache, dass sie gestern irgendwann mitten in der Nacht aufgekreuzt ist, ohne
Weitere Kostenlose Bücher