Einem Tag in Paris
brauche Ruhe. Dein Leben ist zu laut.«
Sie warf mit dem Schuh nach ihm. Er wollte auflachen – sie sah so klein und wütend aus –, und er fing den Schuh auf, als würde er eine Granate auffangen. Er warf ihn zu ihr zurück.
»Das kommt ein paarmal im Jahr vor«, sagte sie allzu laut in der dunklen Straße. Ein Fenster in der Wohnung neben ihnen wurde zugeknallt. »Ich drehe einen Film, habe irre viel zu tun, und dann komme ich nach Hause, und alles ist vorbei, und wir haben unser gemeinsames Leben wieder. Das hier ist nicht mein Leben. Das ist meine Arbeit. Du bist mein Leben, verdammt nochmal! Wovon redest du denn?«
Er starrte sie verwundert an. Er stellte sie sich auf der Leinwand vor, diese großen Gefühle, diese wilden Augen, die heisere Stimme. »Du musst nicht schreien«, sagte er leise.
»Doch, das muss ich!«, brüllte sie. Sie steckte ihren Fuß wieder in den Schuh und stürmte davon. Er folgte ihr.
Selbst außerhalb der Leinwand war er mit dem Drama verheiratet, dachte er. Er fühlte sich erschöpft, und er war wütend auf sich, weil er aus heiterem Himmel einen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Er stellte sich Chantal vor, irgendwo in Paris, wie sie am Fenster ein Buch las und das wütende Geschrei eines Ehepaars unten auf der Straße hörte. Sie würde leise das Fenster schließen.
»Da ist es«, sagt Chantal und zeigt auf das Museum vor ihnen.
»Bon«, sagt Jeremy, und sie überqueren die Straße zum Muséum National d’Histoire Naturelle. Es ist ein renoviertes altes Gebäude, zum Teil behängt mit einem Banner in einem kräftigen Blauton, das all die Ausstellungsräume im Jardin des Plantes auflistet. Offenbar sind sie auf dem Weg zur Grande Galerie de l’Évolution. Hinter dem Museum sieht Jeremy lange grüne Rasenflächen und gepflegte Gärten.
Drinnen warten Schulkinder in einer Zweierreihe auf den Einlass. Die Lehrer stehen an der Kasse und verhandeln mit dem Kassierer, während die Kinder folgsam dastehen, mit den Füßen scharren und sich leise unterhalten.
»Amerikanische Kinder würden hier überall umherlaufen«, sagt Jeremy. »Das ist wirklich erstaunlich. Die Lehrer müssen sie nicht einmal zur Ordnung rufen.«
»Oh, wir befolgen hier so viele Regeln«, sagt Chantal, »bis wir irgendwann genug haben. Wenn wir zwanzig sind, rebellieren wir wie wilde Pferde an kurzen Zügeln.«
»Und Sie? Haben Sie rebelliert?«
»Nein«, sagt Chantal. »Noch nicht.«
Sie lächeln beide, und als sie sich zu schnell umdreht, trifft das Baguette in ihrer Tasche Jeremy am Kopf. Die Kinder lachen lauthals auf, und Chantal sieht mit rot angelaufenem Gesicht zu Jeremy zurück.
»Entschuldigung.«
»Ich werd’s überleben«, sagt Jeremy. »Wenn ich morgen ein blaues Auge habe, werde ich mir eine viel bessere Geschichte einfallen lassen müssen.«
»Sagen Sie Ihrer Frau, ich hätte Sie geschlagen«, sagt Chantal.
»Habe ich Ihnen einen guten Grund gegeben?«
»O ja«, sagt sie.
Und dann eilt sie davon, um die Eintrittskarten zu kaufen. Die Schulkinder sind vor ihnen im Gänsemarsch in das Museum gegangen, und sie ist die Nächste in der Reihe.
Jeremy wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. 10.45 Uhr. Sie werden nur eine Dreiviertelstunde haben, bevor sie Lindy im Café treffen. Er ruft Lindy von seinem Handy an. Sie nimmt nicht ab, aber er wird mit ihrer Mailbox verbunden.
»Bonjour, chérie«, sagt er fröhlich. Sie wird beeindruckt sein. Wie ihre Mutter spricht auch sie mühelos Französisch. Eine gute Privatschulausbildung, ein Sommerkurs in Aix-en-Provence während der Highschool. Jeremy fährt mit seiner Nachricht auf Französisch fort. »Treffen wir uns bei der Moschee. Sie liegt gegenüber dem Eingang zum Jardin des Plantes im Fünften Arrondissement. Du kannst sie nicht verfehlen.« Die Moschee ist ihm auf dem Weg hierher mit Chantal aufgefallen. »Darin gibt es eine Teestube. Ich kann es kaum noch erwarten, dich zu sehen, Schatz. Ich habe heute Morgen kurz bei dir hereingeschaut, als du noch geschlafen hast. Ich …« Er weiß nicht, wie er ihren kahl rasierten Kopf nennen soll? Ihre neue Frisur? Ihre jüngste Rebellion? Er hüstelt und legt dann auf, als wäre ihre Verbindung unterbrochen worden.
Er hat Dana nichts von dem kahl rasierten Kopf gesagt. Sie wird wütend sein.
»On y va«, sagt Chantal. Sie nimmt seinen Arm, etwas, was sie noch nie getan hat, und führt ihn zu dem prächtigen Eingang des Museums.
Sobald sie durch die Pforte treten, holt Jeremy einmal tief Luft.
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