Einem Tag mit dir
schaute ich immer wieder über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass mir niemand folgte. Schließlich schlüpfte ich ins Dick icht und bahnte mir meinen Weg zur Hütte. Zu unserer Hütte . Ihr Anblick tröstete mich. Als ich mich hinhockte und nach dem Buch mit dem Schlüssel tastete, hörte ich die Tür quietschen. Ich blickte auf, und im Halbdunkel stand Westry vor mir.
Ein feiner Bartschatten betonte sein Kinn, und an seinem nassen Haar und dem offenen Hemd, das ihm am Körper klebte, sah ich, dass er gerade vom Schwimmen kam. Er lächelte mich an. »Ich hatte gehofft, dass du heute kommen würdest«, sagte er. »Schau mal, der Mond.«
Ich nickte und schaute in den Himmel, wo der orangefarbene Vollmond am Horizont stand, so nah, dass er fast das Meer berührte.
»Umwerfend«, sagte ich.
»Komm rein«, sagte Westry und nahm meine Hand. »Ich habe etwas für dich.«
Er schloss die Tür hinter uns, und ich setzte mich aufs Bett. Die Luft um mich herum schien zu knistern. Ich wusste, dass er es auch spürte.
Er hielt ein kleines Radiogerät hoch. »Ich habe sogar Funkverbindung bekommen.« Er drehte an den Knöpfen – und dann ertönte wieder diese betörende Musik.
»Hör mal«, sagte er kopfschüttelnd. »Das ist Französisch.«
Ich schloss die Augen und wiegte mich zu der Musik.
»Kennst du das Stück?«, fragte er.
Ich lauschte eine Weile, dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«
»Es heißt ›La Vie en Rose‹.«
Ich hob die Brauen. »Du kennst es?«
»Ich habe es mal gehört, kurz bevor ich eingezogen wurde«, sagte er. »Ein Freund von mir arbeitet bei einer Schallplattenfirma. Bisher ist das Stück noch nicht bekannt, jedenfalls in den Staaten nicht. Sie testen es im Radio, ehe sie die Platte herausbringen. Aber das wird mal ein Riesenhit, glaub’s mir. Hör dir das an!« Er setzte sich neben mich. Unsere Arme berührten sich, und ich spürte seine Körperwärme.
»Verstehst du den Text?«, fragte ich. Ich spürte, wie er mich anschaute, während ich fasziniert das Radiogerät betrachtete.
Er holte tief Luft. »Ja. Übersetzt heißt es: Wenn er mich in die Arme nimmt und ganz leise mit mir spricht, färbt sich das Leben rosa für mich. Er sagt mir Worte der Liebe, Tag für Tag bin ich ganz hingerissen, er hat mein Herz erobert, es ist ein ungekanntes Glück, er gehört mir, und ich gehöre ihm, er hat es mir gesagt, er hat es mir geschworen, wir gehören einander fürs Leben. Sobald ich ihn erblicke, spüre ich, wie mein Herz höher schlägt .«
»Wie schön«, sagte ich, brachte es jedoch immer noch nicht fertig, ihn anzusehen. Meine Hände zitterten, und ich versteckte sie unter meinen Beinen.
Westry stand auf. »Wollen wir tanzen?«
Ich nickte und nahm seine Hand.
Eng umschlungen bewegten wir uns zu der Musik. Ich legte mein Kinn an seine Wange.
»Westry«, flüsterte ich.
»Du meinst Grayson?«
Ich lächelte. »Mein lieber Grayson.«
»Ja, Cleo?«
»Na ja, das meine ich ja gerade. Ich bin Cleo, du bist Grayson. Aber tun wir nur so, als ob? Ist das alles real? Wie kann es sein, dass sich alles so richtig, so gut anfühlt, wenn wir hier sind? Und wenn …«
»Wenn wir da draußen sind«, fiel er mir ins Wort und zeigte auf ein Fenster, »ist es anders?«
»Ja.«
»Weil das hier unser Paradies ist«, sagte er. »Und da draußen, tja, ist alles ziemlich kompliziert.«
»Ja, genau«, stimmte ich ihm zu. »Um ein Haar wäre ich heute gar nicht hergekommen, weil ich das Gefühl hatte, dass du für mich irgendwie unerreichbar geworden warst. Diese Sache mit Colonel Donahue neulich – warum sprichst du nicht mit mir darüber?«
Er legte mir einen Finger auf die Lippen. »Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, dass ich es nicht tue, um dich zu schützen?«
Ich sah ihn verwirrt an. »Mich? Wovor denn?«
»Die Welt da draußen ist ziemlich verrückt, Anne. Es herrscht Krieg. Lug und Trug. Trauer. Überall um uns herum.« Er legte seine Hände an meine Wangen. »Wenn du das nächste Mal das Gefühl hast, dass ich unerreichbar bin, komm hierher. Komm in die Hütte, dann wirst du meine Liebe spüren.«
Liebe. Westry liebte mich . Das war das Einzige, was zählte. Ich schmiegte mich an ihn, und dann überkam mich plötzlich ein Verlangen, das ich für Gerard noch nie empfunden hatte. Leidenschaft. War es das, was Kitty gemeint hatte?
Westry trat einen Schritt zurück und betrachtete mich. »Du bist wunderschön«, sagte er. »Ich werde ein Foto von dir
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