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Einem Tag mit dir

Einem Tag mit dir

Titel: Einem Tag mit dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jio
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ihm wissen. Ob er mich noch liebte, so wie ich ihn?
    »Deine Mutter wird sich freuen, dich zu sehen«, sagte mein Vater mit einem verlegenen Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er von meiner Mutter sprach.
    »Die Adresse hast du doch, oder?«, fragte er.
    »Ja«, antwortete ich und hielt meine Handtasche hoch, in der sich meine Fahrkarte und die Adresse meiner Mutter befanden.
    »Gut«, sagte er. »Fahr vom Bahnhof mit dem Taxi zu ihr. Und pass auf dich auf, Kleines.«
    Ich lächelte. »Papa, du scheinst vergessen zu haben, dass ich fast ein Jahr lang im Kriegsgebiet gelebt habe. Ich glaube, ich kann auf mich aufpassen.«
    Er erwiderte mein Lächeln. »Natürlich, Liebes. Ruf mich an und sag mir Bescheid, wann du zurückkommst. Ich hole dich ab.«
    Ich küsste ihn zum Abschied auf die Wange, dann stieg ich in den Zug. Der Schaffner kontrollierte meine Fahrkarte und führte mich in das kleine Abteil, in dem ich die nächsten zwei Tage verbringen und allein quer durch die Vereinigten Staaten reisen würde.
    Es war schon spät, als der Zug in der Grand Central Station einfuhr, und rundherum glitzerten die Lichter der Stadt. Ich konnte mir noch immer nicht recht vorstellen, dass meine Mutter in dieser pulsierenden Metropole lebte, die so ganz anders war als Seattle.
    Ich stieg aus und schob mich mit meiner schweren Tasche durch die Menschenmenge, vorbei an einer Frau mit zu vielen Kindern, an einem Mann mit einem Affen auf der Schulter, der zwei winzige Becken schlug, und einem grauhaarigen Obdachlosen, der mir seine Mütze entgegenhielt und etwas murmelte, das ich nicht verstand.
    Am Straßenrand vor dem Bahnhof warteten jede Menge Taxis. Ich winkte einem dunkelhäutigen Fahrer, der mir zunickte und die hintere Wagentür öffnete.
    Ich schob meine Tasche auf den Rücksitz und setzte mich daneben. Im Wagen roch es nach Zigarettenrauch. »Ich möchte in die …« Ich faltete den Zettel auseinander. »East Fiftyseventh Street Nummer 560.«
    Der Fahrer nickte nur knapp.
    Mir war, als würde alles vor meinen Augen verschwimmen, als ich aus dem Fenster schaute. Überall blinkten Lichter – grün, rot, pink, gelb. Matrosen auf Landgang in weißen Uniformen mit jungen Frauen im Arm – blonde, brünette, große, kleine. Der Krieg war noch nicht zu Ende, aber die Stimmung hatte sich schon wieder verändert. Man konnte es deutlich spüren – in den Vororten von Seattle ebenso wie in New York.
    Die Gebäude flogen vorbei wie in einem Film, in dem ich mir fremd und verloren vorkam. Schließlich hielt das Taxi abrupt in einer von Bäumen gesäumten Straße.
    »So, da sind wir, Miss«, sagte der Fahrer. Ich bezahlte ihn, er stellte meine Tasche auf dem Gehweg ab und zeigte auf ein elegantes Backsteinhaus mit einer glänzenden, roten Tür.
    Ich bedankte mich bei dem Mann und ging auf das Haus zu. Kurz nachdem ich geklingelt hatte, öffnete meine Mutter die Tür. Obwohl es schon elf Uhr abends war, war sie perfekt geschminkt und trug ein rotes, schulterfreies Kleid. In der Hand hielt sie ein Glas Martini.
    »Anne!«, rief sie aus und zog mich mit einer frisch mani kürten Hand an sich. Eine Olive fiel aus ihrem Glas auf den Boden.
    Meine Mutter machte einen unsicheren Schritt nach hinten, und ich ließ meine Tasche fallen, um ihr zu Hilfe zu eilen. »Lass dich ansehen«, sagte sie unnatürlich aufgekratzt. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, dann nickte sie anerkennend. »Der Südpazifik hat dir gutgetan, Liebes. Du hast mindestens vier Kilo abgenommen!«
    Ich lächelte. »Na ja, ich …«
    »Komm rein! Komm rein!« Ihr rotes Kleid raschelte, als sie mir vorausging.
    Ich folgte ihr mit meiner schweren Tasche in die Eingangshalle, wo ein übertrieben großer Kronleuchter an der Decke hing. »Es ist zwar nicht Windermere«, bemerkte meine Mutter schulterzuckend, »aber es ist jetzt mein Zuhause. Ich habe mich an das Stadtleben gewöhnt.«
    Sie führte mich in ein kleines Wohnzimmer mit Parkettboden und einem viktorianischen Sofa. »Natürlich lasse ich alles renovieren«, sagte sie, »Leon berät mich dabei.« Sie sprach den Namen aus, als müsste ich den Mann kennen.
    »Leon?«
    »Mein Innenarchitekt«, sagte sie und nahm einen Schluck Martini. Ich konnte mich nicht erinnern, dass meine Mutter in Seattle Martini getrunken hätte, auch nicht, dass ihre Schlüsselbeine sich so deutlich abgezeichnet hätten. »Er besteht darauf, dass ich dieses Zimmer violett streichen lasse, aber ich weiß nicht so recht. Ich glaube, ich würde

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