Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
Vom Netzwerk:
beobachteten die Vorgänge hinter den Fensterscheiben. Wir konnten jetzt die Aufdrucke der Tassen und Becher, aus denen sie nippten, erkennen. Die der jüngeren Frauen waren oft mit Fotos bedruckt, die sie lächelnd mit einem Mann zeigten. Wenn sie doch einmal aus ihren Tassen tranken, klebten ihre Unterlippen wie Blutegel auf diesen Fotos. Blutegel, die selbst dann, wenn nichts mehr zu holen ist, nicht ablassen und weitersaugen. Die Tassen der Älteren waren weniger spektakulär, Überbleibsel diverser Weihnachtsmärkte, Werbegeschenke mit abgebrochenen Henkeln und Sprüchen, die die Zukunft betonten, in der etwas gekauft werden soll.
    Es passierte nichts während dieser Morgendämmerungen. Die Menschen, die wir beobachteten, konnten sich gerade noch dazu aufraffen, Kaffee zu
     kochen. Sie kippten Pulver in ihre Tassen, schütteten Wasser aus dem Kocher darüber und saßen dann vor ihren Fenstern, wie Wachkomapatienten, die von
     einer guten Seele in die erste Frühlingssonne geschoben worden waren: in fleckigen Nachthemden und falsch geknöpften Pyjamas. Aus ihren Mündern würde auch
     im weiteren Verlauf des Tages schlechter Atem kommen, die Abdrücke zusammengeknüllter Kissen im bettwarmen Gesicht verschwanden nur langsam.
    Niemand interessierte sich für sie. Nur Johanna und ich bemerkten, wenn sie sich plötzlich erhoben, ihr Kopf in die blauen Raucharabesken stieß, die ihre sich im Aschenbecher selbst verrauchenden Zigaretten erschaffen hatten, und dann mit zwei schlurfenden Schritten in einem Teil des Zimmers verschwanden, den wir nicht mehr einsehen konnten, um dort die Dinge zu tun, die ihr Leben eigentlich ausmachten, die Dinge, von denen sie sich in diesen Morgendämmerungen erholten, die Dinge, die den Rahmen, das Regal für all die Fototassen bildeten, Dinge, an die wir mit unseren Augen nicht heranreichten. Etwas protestierte dann in uns. Es war wie in der Schule, wenn ein Lehrer die Folie, die wir noch abschrieben, plötzlich wegzog. Es löste eine völlig unangemessene Empörung aus. Mit Gesichtern wie nach fünf Stunden Tetris standen wir dann in den Blumenbeeten. Wir wollten in die Köpfe dieser Menschen kriechen. Wir glaubten an die Gedanken und Bilder, die, zu einer schimmernden Perle komprimiert, sich hinter ihren abgenutzten Gesichtern verbargen. Diese Perle war zu kostbar, um sie dem Tageslicht und der Heimtücke des Hinterlands und seiner Bewohner auszusetzen. Sie erfreuten sich ihrer in der Morgendämmerung, und selbst die gelangweilte Art, mit der sie sich in ihre ausgeleierten Schlafanzughosen griffen, sich am Arsch oder an ihrem Genital kratzten, konnte unseren Glauben an sie nicht zerstören.
    »Innere Emigration«, sagte Johanna.
    Die dicke junge Frau kramte einen Hautlappen aus dem Ausschnitt ihres Nachthemds hervor, sie zupfte mit abwesendem Blick an ihrer Brustwarze und drückte sie dann dem Säugling, den sie wie ein Bündel geschleuderter Wäsche in einem Arm hielt, an den Mund.
    »Man kann nur äußerlich emigrieren«, sagte ich.
    Wir waren besonders schlau während dieser Morgendämmerungen.
    Wenn wir alle Häuser beliefert hatten, rauchte ich auf dem Parkplatz der Pension Malinowski eine Zigarette. Es war das Ritual, mit dem wir unsere Tour beschlossen. Johanna stand dabei und wartete geduldig, bis ich fertiggeraucht hatte. Der Anblick der Menschen, die wir am Morgen beobachtet hatten, hing mir nach. Ich malte mir kleine beschauliche Leben für sie aus – weder besonders abenteuerlich noch besonders trostlos. Sie würden sich jetzt, während ich meine Zigarette rauchte, im Badezimmer für den Tag fertigmachen. Sie würden, falls sie Kinder hatten, diese wecken und sie schul- und kindergartenfertig machen. Sie würden in ihre Autos steigen, an guten Tagen die Radiohits mitsingen und sich bei der Parkplatzsuche ärgern. Dann standen sie hinter Wurst- und Käsetheken oder in adretten Kostümen hinter einem Bankschalter oder im Vorzimmer des Chefs,für den sie die rechte Hand waren. Die meisten von ihnen, stellte ich mir vor, hätten Partner, denen es auffallen würde, wenn sie abends nicht nach Hause kämen, und die nach einigen Stunden oder vielleicht auch erst nach einer allein verbrachten Nacht anfangen würden, nach ihnen zu suchen. Und wenn jemand nach einem suchte, wenn man abends nicht nach Hause kam, dachte ich, war das Liebe – und dann konnte ihr Leben doch gar nicht so verkehrt sein. Ich stellte mir vor, wie Johanna und ich einmal hinter diesen Fenstern in die

Weitere Kostenlose Bücher