Einen Stein für Danny Fisher: Roman
vergessen, im Laden anzurufen. "Jade wird alles verstehen, wenn ich's ihm erkläre."
Sie sah mich zweifelnd an. Etwas von ihrem Zweifel übertrug sich auf mich. Und wie sich herausstellte, sollten wir auch recht behalten.
6
Jade blickte auf, als ich den Laden betrat, aber in seinen Augen war kein Willkommensgruß. Ich sah den Bartisch entlang. Ein fremder Mann arbeitete in meiner Abteilung.
"Hallo, Jack", sagte ich ruhig.
"Hallo, Danny", erwiderte er ohne Begeisterung.
Ich wartete auf seine Frage, wo ich denn gewesen sei, aber er schwieg. Da bemerkte ich erst, daß er sehr ärgerlich war. Ich entschloß mich daher zu sprechen. "Es ist etwas geschehen, Jack", erklärte ich, "ich konnte nicht kommen."
"Sein Ärger spiegelte sich in seinen Augen. "Du hast vermutlich auch fünf Tage lang nicht telefonieren können, was?" fragte er ironisch.
Ich hielt seinem Blick stand. "Das tut mir aufrichtig leid, Jack", sagte ich entschuldigend, "ich weiß, ich hätte anrufen müssen, aber ich war so verzweifelt, daß ich alles andere vergaß."
"Blödsinn!" fuhr er auf. "Zwei Nächte lang hab ich mich fast zugrunde gerichtet und hab gewartet, daß du endlich aufkreuzen wirst, und du? Du hast nicht mal Zeit gefunden, um mir zu telefonieren!"
Ich blickte wieder den Bartisch entlang. "Ich kann nichts dafür, Jack", sagte ich, "es ist etwas geschehen, und ich konnte nicht telefonieren."
"Was? In fünf Tagen nicht ein einziges Mal?" sagte er ungläubig. "Da müßte die Welt erst zugrunde gehen, ehe ich jemanden einen solchen Bären aufbinden würde."
Ich sah ihn noch immer nicht an. "Jack, ich hatte einen schweren Kummer", sagte ich ruhig, "mein Ba . . . meine Tochter ist gestorben."
Einen Moment trat tiefe Stille ein. Dann sagte er: "Danny, ist das wirklich wahr?"
Jetzt sah ich ihm in die Augen. "Mit solchen Dingen scherzt man nicht", antwortete ich.
Da schlug er die Augen zu Boden. "Es tut mir leid, Danny, es tut mir aufrichtig leid."
Ich sah wieder den Bartisch entlang. Der neue Mann beobachtete uns verstohlen, wobei er den Anschein zu erwecken versuchte, sich für das, was wir sprachen, nicht zu interessieren. Aber ich kenne diesen Blick. Er hatte Angst, seinen Job zu verlieren. Ich selbst hatte zu oft so geblickt, um seine Gefühle
nicht zu kennen. Ich sah wieder zu Jack zurück. "Ich sehe, du hast einen neuen Angestellten."
Er nickte etwas verlegen, sagte jedoch nichts.
Ich versuchte meiner Stimme einen sorglosen Ton zu geben. Aber es fällt einem schwer, wenn von den nächsten Worten abhängt, ob du etwas zu essen hast oder nicht. "Hast du noch Platz für mich?"
Er antwortete nicht sogleich. Ich bemerkte, wie er den Bartisch entlang zu dem neuen Angestellten hinüberblickte und dann wieder zu mir zurück. Der neue Mann machte sich sofort geschäftig daran, den Grill zu säubern. "Im Augenblick nicht, Danny", sagte er leise, "es tut mir aufrichtig leid."
Ich wandte mich halb ab, um ihn die Tränen nicht sehen zu lassen, die mir in die Augen traten. "Schon gut, Jack", sagte ich, "ich verstehe."
Seine Stimme verriet jetzt tiefstes Mitgefühl, für das ich ihm dankbar war. "Vielleicht ergibt sich bald etwas", sagte er eilig, "ich werde dich anrufen."
Er schwieg einen Moment. "Wenn du bloß angerufen hättest, Danny ..."
"Ach, Jack, wenn ... wenn . .. wenn", unterbrach ich ihn, "aber ich hab eben nicht angerufen. Jedenfalls vielen Dank." Und ich verließ den Laden.
Vor der Ladentür sah ich auf meine Uhr. Es war sechs Uhr vorbei. Ich überlegte, wie ich es Nellie beibringen sollte, besonders nach dem, was sich am Nachmittag abgespielt hatte. Es war ein unglückseliger Tag.
Ich beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war zwar ein langer Weg, aber fünf Cent sind viel Geld, wenn man keinen Job hat. Von der Dyckman Street zur East Fourth waren cs beinahe drei Stunden. Mir machte es nichts aus. Um so länger dauerte es, bis ich's Nellie eingestehen mußte.
Es war bereits neun Uhr, als ich unser Haus erreichte. Die Nacht war kalt geworden, aber mein Hemd war dennoch schweißnaß, als ich die Treppe hinanstieg. Ich blieb auf dem Treppenabsatz zögernd stehen, ehe ich die Tür aufschloß. Was sollte ich ihr sagen? Ich ließ die Tür weit aufschwingen, ehe ich über die Schwelle trat. Im Wohnzimmer brannte Licht, doch in der Wohnung war es totenstill.
"Nellie", rief ich, drehte mich um und hängte meine Jacke in den kleinen Garderobeschrank.
Ich hörte Schritte, dann rief eine Männerstimme: "Das ist er!"
Ich
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