Einer kam durch
es auf deutsch.
»Ja, natürlich. Ich gebe zu, ich hatte richtig Angst, als ich sie schreien hörte, und als sie dann näher kamen und ich hörte, wie sie riefen: Totschlagen, schlagt das Nazischwein tot!«
»So, Sie hatten Angst – hatten Sie wirklich Angst?«
»Ja!«
»Glauben Sie nicht, daß das gut war?«
»Was – was soll gut sein?«
»Nun, daß Sie auch einmal Angst hatten.«
»Wieso?«
»Wissen Sie, was diese Leute erlebt haben?«
»Die Soldaten?«
»Nun … sie waren ja nicht immer Soldaten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie waren Bauern oder Handwerker. Sie waren Angestellte, Studenten und Beamte und Arbeiter. Und sie haben den Krieg nicht gewollt – sie haben nicht einmal daran gedacht. Und dann kamen die Deutschen …«
»Man hat uns provoziert!« sagte Werra rasch. »Wir wollten nichts als eine Eisenbahnlinie und eine Straße durch den polnischen Korridor nach Ostpreußen … und Danzig ist schließlich eine deutsche Stadt!«
»Gewiß«, sagte der Major.
»Sehen Sie«, trumpfte Werra auf, »Sie geben es selbst zu, Danzig ist eine deutsche Stadt. Und man wollte uns Danzig nicht geben!«
»Lassen wir das«, resignierte der Major, »es geht nicht um Danzig … und es geht nicht um eine Eisenbahnlinie … kommen Sie, rauchen Sie eine Zigarette.« Er reichte dem Deutschen ein flaches goldenes Zigarettenetui hin. Es war ein altertümliches Stück mit einem aufgesetzten Rubin in jeder Ecke. Die Innenseite des Deckels zeigte eine Gravur. Werra konnte die Buchstaben nicht genau erkennen, aber ihm war, als habe er das gleiche Etui schon irgendwo einmal gesehen.
Der Gefangene zog eine ›Swan‹-Streichholzschachtel aus der Knietasche seiner Kombination, ein einziges Hölzchen war übrig geblieben. Er ließ es aufflammen, gab dem Major Feuer, zündete sich selbst die Zigarette an und steckte die zerdrückte Schachtel in den Aschenbehälter, der an der Rückseite des Fahrersitzes angebracht war. Er hatte die englischen Streichhölzer jetzt nicht mehr nötig. Die Packung ›Players‹ war auch längst aufgeraucht, und die Nummer der ›Times‹ hatte er im Adjutantenzimmer liegengelassen. Er brauchte nun keine Tarnung mehr.
Das Gespräch war verstummt. Der polnische Offizier schien wieder seinen Gedanken nachzuhängen. Der Zigarettenrauch zog langsam nach vorn. »Beg pardon, Sir!« sagte der Fahrer und kurbelte die Scheibe einen Spalt herunter, ein kalter frischer Luftzug kam herein, wirbelte die Rauchwolken durcheinander und blies sie in Fetzen zum Fenster hinaus.
»Aber ich begreife nicht«, nahm Werra das Gespräch wieder auf, »wenn es nicht um Danzig geht – worum geht es dann?«
Der Major lächelte sein bitteres Lächeln. »Wie alt sind Sie?« fragte er.
»Sechsundzwanzig.«
»Dann dürfen Sie noch an die äußeren Anlässe glauben. Und dafür kämpfen. Aber sterben …?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Sehen Sie, mit den äußeren Anlässen ist es so, daß man sie zu allen Zeiten gefunden hat. Früher war es die Religion … da haben Christen gegen Mohammedaner gekämpft und Mohammedaner gegen Christen, und sie haben die grüne Fahne des Propheten vor sich hergetragen oder das Banner der Kreuzritter, und jeder hat geglaubt, daß er den anderen vernichten müsse, um seinem Gott zu gefallen. Und dann haben die Protestanten die Katholiken bekämpft und umgekehrt … und die Städte haben sich bekriegt und die Länder. Heute versteht das keiner mehr. Können Sie noch begreifen, daß Neapel gegen Sizilien gekämpft hat oder Preußen gegen Österreich? Nein. Aber Deutschland gegen Polen und Frankreich gegen Deutschland – das verstehen Sie.«
»Ja, aber …«
»Es gibt kein ›aber‹.«
»Aber die Menschen in Deutschland …«
»Die Menschen sind überall gleich. Überall, wo man sie Menschen sein läßt. Wo sie von ihren Müttern geboren werden, wo sie heranwachsen unter den Augen ihrer Väter, wo sie sich lieben und Kinder zeugen, wo sie frei sind, zu glauben, was ihnen recht erscheint, und zu arbeiten, was ihnen das Leben lebenswert macht … wie gleichgültig ist es, was in ihrem Paß steht, ob Deutschland oder Polen oder Frankreich oder England … hören Sie zu, ich will Ihnen eine Geschichte erzählen …«
Der Major lehnte sich zurück, seine Finger umspannten das goldene Zigarettenetui, als hielten sie sich daran fest. Seine Stimme klang ruhig, fast ein wenig müde, aber eine seltsame Nervosität war in den schmalen Händen, wie er beim Reden mit dem
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