Einer kam durch
geöffnete Fenster in das Abteil hineinfauchte, und dann war er gesprungen. Er sprang in das dunkle, bodenlose Etwas hinein, das draußen auf ihn wartete. Er hatte die Arme vor das Gesicht gerissen. In diesem winzigen Augenblick, in dem er zwischen Zug und Bahndamm schwebte, hatte er nur gedacht, hoffentlich bin ich weit genug gesprungen. Wenn er Pech hatte, drückte ihn der Fahrtwind gegen den Zug zurück, und er kam unter die Räder des nachfolgenden Wagens. Von Franz von Werra wären dann nur ein paar zermahlene Knochen übrig geblieben.
Daran dachte er, während er unten am Waldrand saß und seine Zigarette rauchte. Er hatte wieder einmal Glück gehabt.
Die nächste Frage war nun, wie er zur amerikanischen Grenze kommen konnte, die Zuflucht und Sicherheit versprach. Wenn er es schaffte, hatte er den Tommies endgültig ein Schnippchen geschlagen.
Er blickte zu den Sternen hoch und versuchte sich zu orientieren. Etwas rechts von ihm hing groß und leuchtend der Polarstern. Er warf die Zigarette weg und wickelte den Schal um seinen Kopf. Die Nacht war eiskalt, und er spürte die Kälte schmerzend auf seinem Körper. Er stand auf und wandte sich entschlossen nach Süden. Er drang in den Wald ein. Die Zweige der Bäume zerkratzten sein Gesicht, und es dauerte eine lange Zeit, bis er in lichteres Waldgebiet gelangte, wo er schneller vorwärtskam.
Der Marsch durch die Wälder wurde zur Ewigkeit. Da war der Schnee, der ihm manchmal bis an die Hüften reichte, da waren die finsteren Bäume mit ihren spitzen Ästen, die darauf aus zu sein schienen, ihm die Augen auszustechen, da war verfilztes Dickicht, das ihn zu großen Umwegen zwang, da waren Felsen, über die er mühsam hinüberklettern mußte, da waren Bäche mit trügerischen Eisdecken, und da war immer die Angst, daß man ihn doch noch faßte und daß dann alles vergebens gewesen war.
Einmal wäre er fast in eine Wildfalle geraten, die von kanadischen Jägern aufgestellt worden war. Ein anderes Mal stolperte er über einen vorstehenden Wurzelstrunk und sauste, wie von einem Katapult abgeschossen, einen langen Abhang hinunter. Aber an diesem Donnerstag war das Glück auf Franz von Werras Seite. Er trug durch den Sturz noch nicht einmal eine Schramme davon.
Er kämpfte sich verbissen weiter durch die Wildnis. Einmal dachte er daran, daß es hier auch noch Bären und Wölfe gab, aber er verscheuchte diesen Gedanken sofort wieder, denn das war eine der weniger angenehmen Seiten seines verwegenen Ausflugs. Wenn sich ein Wolfsrudel an seine Fährte heftete, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als auf einen Baum zu klettern. Aber die Wölfe hatten bestimmt mehr Geduld als er, und er konnte dann oben auf einem steifen Ast verhungern. Mit seinen paar Pfundnoten konnte er die Wölfe wohl kaum bestechen.
Als der Morgen graute, warf er sich erschöpft unter einer großen Kiefer hin und ruhte sich eine Weile aus. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm, während seine Beine im Schnee lagen. Eine Weile dachte er an die Kameraden und an das warme Eisenbahnabteil, in dem sie gut verpflegt ihrem Ziele entgegenfuhren, und plötzlich überfiel ihn eine überwältigende Müdigkeit. Großer Gott, dachte er, wenn ich jetzt einschlafe … Ich werde nie wieder aufwachen. Er riß sich zusammen und stand entschlossen auf. Er klopfte den Schnee von seinem Mantel und marschierte weiter.
Als die ersten Strahlen der Sonne die Wipfel der Bäume versilberten, gelangte er zu einer breiten Brandschneise, die von Waldarbeitern angelegt worden war. Sie verlief schnurgerade nach Süden. Der Schnee war hier von Traktoren glatt gewalzt.
Nach dem mühsamen Sich-vorwärts-Kämpfen durch den Wald war die Schneise eine Erlösung. Sein Mut stieg wieder, und er marschierte pfeifend die Schneise entlang. Es wurde jetzt sehr schnell hell. Als er ein paar hundert Meter weit marschiert war, hörte er ganz in der Nähe das Brummen eines Motors. Gleich darauf sah er vor sich in Steinwurfnähe einen Wagen quer über die Schneise huschen. Werra blieb stehen. Er war auf eine Straße gestoßen, die ganz nahe vor ihm die Schneise kreuzte. Er legte die wenigen Dutzend Meter zur Straße im Laufschritt zurück.
In der Ferne sah er den Wagen verschwinden, der eine lange Schneefahne hinter sich herzog. Kurz entschlossen wandte er sich nach links und folgte der Straße, auf der der Schnee von Hunderten von Fahrzeugen plattgewalzt worden war. Das Glück war wieder auf seiner Seite. Wenn er im Wald auf
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