Einer kam durch
Kartenkünstler verholte sich in sein Abteil, die anderen legten sich auf ihre Bänke.
Bevor sie einschliefen, berechnete Wagner noch mal den günstigsten Zeitpunkt. »Der Zug wird bei dem Wetter auch heute nacht Verspätung haben«, sagte er. »Morgen früh beim Wecken wird gerade der rechte Zeitpunkt sein. Das ist auch sonst günstig für den Zirkus, den wir verabredet haben. Also, schlaf gut, Franzl! Es wird schon schief gehen!«
Franz von Werra schlief in dieser Nacht nicht gut. Er überlegte noch einmal Punkt für Punkt seinen Plan. Draußen war eine sibirische Kälte. Ohne Mantel zu springen, war lebensgefährlich. Doch wie sollte er den Kanadiern klarmachen, daß er in diesem überhitzten Abteil einen Mantel anziehen mußte! Und dann, wenn das Fenster offen war, wie sollte er springen? Mit den Füßen zuerst? Das brauchte Zeit. Also mit dem Kopf voran! Das war jedenfalls gefährlich. Es kam ganz darauf an, wo und wie man landete. Wenn da gerade ein Meilenstein war oder auch nur ein Eisklotz, dann gute Nacht. So hart war auch sein Schädel nicht, daß er das aushielt. Und würden die Kanadier nicht sofort merken, wenn ein Fenster aufgerissen wurde?
Er starrte gegen den ausgeschwungenen Gepäckkasten, in dem Wagner schlief. Alle schliefen, einige schnarchten, einer blies vernehmlich und trocken durch die Nase. Vorsichtig angelte er eine Zigarette aus der Tasche seiner Uniformjacke, zündete sie an und rauchte. Es war jetzt fast drei Uhr morgens. Die kanadischen Posten im Wagen wurden abgelöst, sprachen halblaut miteinander und ließen sich nieder. Einer von ihnen trank offenbar aus einer Flasche. Es gluckerte, und Werra hatte plötzlich Durst. Jetzt ein Schnaps, und alle Zweifel würden mit einem Schlag beseitigt sein.
Er begann über seine Vergangenheit nachzudenken. Hatte er nicht immer Erfolg gehabt? War sein bisheriges Leben nicht unerhört schön gewesen? Er wußte, daß sein Name schon auf der Ritterkreuzliste stand. Aber würde ihm der Erfolg auch treubleiben? Auch wenn ihm die Flucht gelingen würde; auch wenn er einmal den ›Dödel‹, diese Zierde des Adamsapfels, am Hals trug und als Held gefeiert würde – eines Tages würde das Gesetz der Wahrscheinlichkeit sich gegen ihn stellen. Er würde nicht mehr Jäger, sondern Gejagter sein. Ein feindliches Geschoß würde in seinem Tank explodieren oder eine MG-Garbe würde sein Leitwerk abrasieren. Vielleicht würde er nicht mehr aussteigen können, und er würde dann von der brennenden Maschine in die Tiefe gezogen werden …
Er versuchte die dunklen Gedanken von sich abzuschütteln. Sinnlos, darüber nachzugrübeln! »Einmal wird deine Nummer aufgerufen …« Irgendwo hatte er diesen Satz einmal gehört. Er hatte ihm gefallen. Er gefiel ihm auch jetzt noch in seiner Unabänderlichkeit. Also, was er auch tat, einmal würde seine Nummer aufgerufen werden, davor gab es kein Entrinnen. Er wußte, was in Deutschland auf ihn wartete, wenn ihm diese Flucht gelingen würde. Der Krieg war noch lange nicht zu Ende. Wer einmal auf einem Schiff eines britischen Riesengeleitzuges gewesen war, wer einmal die ungeheure Weite und die friedliche Produktionskraft dieses Landes gesehen hatte, der wußte, daß die zähen Briten niemals nachgeben würden. Ihr Weltreich war zu groß, und sie hatten zu viele Verbündete. Der Krieg würde immer weitergehen!
Und trotzdem mußte er springen und versuchen, wieder nach Deutschland zu kommen. Er wollte frei sein. Das war es, was ihn trieb. Er hatte einen unstillbaren Durst nach der Freiheit. Er war fest entschlossen, das gefährliche Spiel auf Leben und Tod konsequent zu Ende zu führen.
Das Heulen der Zugsirene und das tosende Rattern der Räder auf einer Schienenkreuzung riß ihn aus seinem unruhigen Schlaf. Hastig warf er einen Blick auf die Armbanduhr. Schon viertel nach fünf. Er war sofort hellwach. Nach Wagners Berechnungen befand sich der Zug jetzt fünfeinhalb Stunden jenseits Montreal, und je nachdem, welche Strecke er gewählt hatte, standen sie hundert bis zweihundert Kilometer von den USA entfernt. Mit jeder Viertelstunde entfernte sich der Zug weiter von der Grenze.
Werra schob die Decke zurück, kleidete sich an und überlegte die ganze Zeit hindurch, wie er den Kanadiern erklären konnte, warum es ihn nicht länger im Bett hielt.
Wie immer in solchen Fällen kam der geniale Einfall im Augenblick der Gefahr. Er hatte gerade die Stiefel verschnürt, als eine große Gestalt in kanadischer Uniform neben ihm
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