Einer kam durch
Toilettenpapier gemalt wurde – eine Arbeit von vielen Monaten!
Das britische Lagerkommando hatte einen Teil der Keller als Einzelzellen für Disziplinarsträflinge eingerichtet. Diese Zellen sind eine Galerie von Bleistiftzeichnungen, die U-Boote, sinkende Schiffe und deutsche Flieger beim Abschuss von Hurricanes und Spitfires darstellen.
Der rangälteste deutsche Offizier war dem britischen Camp-Kommandanten für die Disziplin im Lager verantwortlich. Er bildete mit anderen gleichrangigen Offizieren einen Ältestenrat, der eine Art Selbstregierung des Lagers darstellte. Zu den Aufgaben des Ältestenrates gehörte es, für die Disziplin im Lager zu sorgen, sich um das allgemeine Wohlergehen der Lagerinsassen zu kümmern und das Lager dem britischen Kommandanten gegenüber zu vertreten. Er genehmigte und organisierte jeden beabsichtigten Fluchtversuch, zensierte die Post und verhandelte in einem geheimen Gericht gegen Lagerinsassen, denen vorgeworfen wurde, politisch oder militärisch unzuverlässig zu sein.
Zu der Zeit, als Franz von Werra in Grizedale eintraf, bestand der Ältestenrat aus zwei Stabsoffizieren der Luftwaffe, Major Willibald Fanelsa und Hauptmann Helmut Pohle, und dem U-Boot-Kommandanten Kapitänleutnant Werner Lott.
Fanelsa war nur wenige Tage vor Werra im Lager eingeliefert worden. Er war abgeschossen worden, als er bei einem unwichtigen Angriff auf Coventry ein neues Zielortungsgerät erproben sollte.
Pohle war einer der ersten Abschüsse der RAF. Er war persönlicher Freund Hermann Görings und hatte bei seiner Gefangennahme sofort verlangt, telefonisch Verbindung mit Berlin aufzunehmen, um ein Rotes-Kreuz-Flugzeug anzufordern, mit dem er zurückfliegen wollte. Statt dessen landete er im Tower von London, in dem die ersten Vernehmungen stattfanden.
Lott war der Mann, der den ersten Fluchtversuch in Grizedale Hall gemacht hatte. Auf unbekannte Weise hatte er sich in den Besitz einiger englischer Pfunde gesetzt (Gefangene bekamen nur Lagergeld für die Kantine); außerdem besaß er gefälschte Ausweispapiere und passende Zivilkleidung. Er kam aber nur eben über den inneren Ring der Stacheldrahtzäune, die das Lager umgaben.
Die Ankunft neuer Gefangener war in allen Kriegsgefangenenlagern immer ein großes Ereignis. Wie üblich wurden Werra und die anderen ›Neuen‹ vom Ältestenrat eingeladen, im großen Gemeinschaftsraum ihre Erlebnisse vor versammeltem Haufen zu schildern. Werra beschrieb Abschuss und Gefangennahme und kam dann auf seine Erfahrungen im Verhörlager. Als er den österreichischen Ingenieur Leutnant Kleinert erwähnte, der bei seinem ersten Einsatz heruntergeholt worden war, bemerkte er, daß seine Zuhörer zu grinsen begannen und sich gegenseitig anstießen.
»Als ich in den Raum gebracht wurde«, fuhr von Werra mit seiner Geschichte gerade fort, »da stand Kleinert …«
»… am Waschbecken und wusch seine Socken!« unterbrachen ihn die anderen im Chor.
»Wieso? Woher wissen Sie das?«
Seine Frage ging im allgemeinen Gelächter unter.
»Was soll das alberne Lachen?« rief er. »Ich bin fest überzeugt, daß Kleinert nie zur Luftwaffe gehört hat. Der Kerl war einfach ein …«
»… britischer Spion!« fiel der Chor ein.
Als das Gelächter sich gelegt hatte, machte Major Fansela dem verblüfften Neuling klar, daß fast alle Lagerinsassen den ›Leutnant Kleinert‹ in irgendeiner Verkleidung kennen gelernt hatten. Aber ob er sich nun als Jagdflieger oder U-Bootmann ausgab, immer begrüßte er die Männer, die er aushorchen sollte, beim Sockenwaschen. Wahrscheinlich, um den Eindruck zu erwecken, ein ›alter POW-Hase‹ zu sein. Es war seine ›Masche‹. Deutsche Offiziere, die bei ihrem ersten Bericht nichts von dem sockenwaschenden Leutnant Kleinert erzählten, gerieten daher in den Verdacht, auf den Lockvogel hereingefallen zu sein. Sie wurden vom Ältestenrat besonders mißtrauisch geprüft.
Nach den anstrengenden Wochen im Verhör war es für Werra ein besonderer Genuss, am ersten Abend in einem Sessel vor dem Kamin der Bibliothek von Grizedale zu sitzen, wo ein gewaltiges Feuer unter dem Rauchfang brannte.
Rings um ihn wurde Skat gedroschen, nachdenkliche Männer saßen vor Schach- und Mühlebrettern, Zeitungen raschelten, halblaute Gespräche drangen an sein Ohr. Plötzlich fuhr er zusammen und blickte sich um. Die sonore Stimme eines Marineoffiziers hinter ihm hatte gerade gesagt: »Alles halb so schlimm. Wir sind Weihnachten wieder zu Hause.
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