Einer kam durch
zunächst zu Werras Bett im Lager gebracht. Nachdem sie an seinem Pyjama eine ordentliche Portion Witterung genommen hatten, wurden sie zum Ausgangspunkt der Flucht gefahren und auf die Straße gesetzt. Aufgeregt liefen sie umher, schnoberten in jedem Winkel, konnten sich aber offenbar nicht entscheiden, wohin der Mann geflohen war. Denn inzwischen goß es in Strömen vom Himmel, die Farnkräuter am Berghang waren nass wie die Schwämme, der Regen hatte längst jede Witterung weggespült. Mit Werra – das mußte die Polizei an diesem und an späteren Tagen feststellen – hatten die Bluthunde kein Glück. Oder, besser gesagt, der Oberleutnant Werra hatte außerordentliches Glück mit Bluthunden.
Als die Dämmerung in Nacht überging, wurden die großen Tiere, die im Regen wie braunlackiert aussahen, wieder ins Auto gebracht und nach Preston zurückgefahren. Fehlmeldung! Statt dessen wurden neue Truppen angefordert, die Suchkommandos verstärkt, die Aufmerksamkeit an allen Brücken und Übergängen verschärft. Doch obwohl das Lager Grizedale zwischen den beiden Seen Windermere und Coniston isoliert liegt, war Werra wie vom Erdboden verschluckt.
Ein Tag verging, zwei Tage, ein dritter. Werra war an einem Montag geflohen. Bis zum Mittwoch hatte die englische Armee mehrere tausend Soldaten hauptamtlich auf seine Fährte gesetzt. BBC gab in Sondermeldungen seine Personalbeschreibung durch, die großen Tageszeitungen berichteten ausführlich über seine Flucht. Bisher war sein Name der Presse unbekannt geblieben. Jetzt erfuhren die Reporter, daß er keine losen Ohrläppchen besaß, und obwohl das nicht allzu selten ist, wurde er bekannt als ›Der Nazipilot mit den angewachsenen Ohren‹. Unter diesem Namen suchte ihn jetzt die englische Öffentlichkeit.
Der Polizei war sein spurloses Verschwinden unheimlich und unangenehm. Wilde Gerüchte durchliefen das Land. Es war in jener Zeit, als große Teile der britischen Bevölkerung täglich mit einer deutschen Invasion rechneten. Überall wurde von Sabotage und einer ›Fünften Kolonne‹ geredet.
Die Polizeistation von Ulverton wurde das Hauptquartier der Suche in Lancashire. Hier trafen Hunderte von Telefonanrufen ein, die teilweise aus den entferntesten Gegenden des Seengebietes von verdächtigen Gestalten berichteten. Jedem Anruf mußte nachgegangen werden. Keiner hatte mit dem gesuchten Deutschen zu tun.
Von Werra war einfach verschwunden.
***
Die Engländer hatten festgestellt, daß er weder einen Rucksack noch einen Beutel bei sich trug, was auch von den beiden Frauen bestätigt wurde. Er mußte also alle Lebensmittel, die er mitgenommen hatte, in seinen Taschen untergebracht haben. Natürlich konnte das nicht viel sein. Vielleicht das Nötigste für zwei bis drei Tage, bestimmt nicht mehr. Aber er mußte doch essen. Irgendwann und irgendwo. Dazu goß es die ganze Zeit in Strömen, und er hatte keinen Mantel. Also mußte er sich ein Unterkommen suchen. Doch am Donnerstagabend, am vierten Tag seiner Flucht, war immer noch keine Spur von ihm gefunden worden. Es klang unglaublich; aber Werra war einfach verschwunden.
Für die Polizei blieb unverständlich, wie der Deutsche ihrem dichten Suchnetz entkommen konnte. Sie glaubten, daß er entweder von jemand versteckt würde oder daß er durch einen Fall verletzt worden sei. War er vielleicht schon tot?
Aber Werra wurde nicht versteckt. Er war auch nicht verletzt. Und er war durchaus nicht tot.
Selbst in den entlegensten und wildesten Teilen des Seengebietes gibt es zahlreiche kleine Steinhütten, die ›Hoggarths‹ genannt werden und in denen die Bauern das Futter für ihre Schafe aufbewahren.
Nach Werras Flucht suchte die Polizei alle entlegenen Farmen auf und verlangte, daß diese Hütten verschlossen und besonders bewacht würden. Nachts kontrollierten Streifen der ›Home Guard‹ auch die entlegensten Hoggarths im Seengebiet. Allgemein wurde angenommen, daß der Regen den Flüchtling früher oder später zwingen würde, in einer solchen Hütte Schutz zu suchen.
Um dreiundzwanzig Uhr, am Donnerstag, dem 10. Oktober 1940 durchsuchen zwei ›Home-Guard‹-Männer das Bergweidegebiet von Broughton-Mills, nur vier bis fünf Meilen von der Küste entfernt. Beide waren Schäfer von Beruf. Sie inspizierten einsame Hütten auf dem Moor zwischen den Tälern von Lickle und Kirby. Der ältere der beiden trug eine Sportflinte, der jüngere hatte einen Revolver umgeschnallt; außerdem besaß er eine Karbidfahrradlampe
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