Einer kam durch
äußerster Stimmkraft; alle Viertelstunde fielen sie übereinander her und prügelten sich offenbar aus lauter Übermut, wobei sie nicht mit Schimpfworten sparten. Worte wie ›Schneider schwarz‹ oder ›Grand Hand‹ schienen ihre Lieblingsflüche zu sein. Was für eine verrückte Nation, dachten die Posten …
Waren die Spieler müde geworden, dann kamen die Gesänge der Stukapiloten, die offenbar das Schlachtgeschrei der Kimbern und Teutonen einübten. Hörten die Chöre auf, dann begann erst die eigentliche Nervensäge. Denn nun erschien Leutnant Bruns mit seinem zärtlich geliebten Grammophon, kurbelte und spielte pausenlos die einzige Platte, die er besaß: ›Begin the Beguine‹ auf der einen, ›I paid for the lie I told you‹ auf der anderen Seite. Er spielte sie abwechselnd, mit schöner Regelmäßigkeit. Die Platte wurde vom laufenden Gebrauch nicht besser, die Posten kannten schließlich jede Feinheit dieser Musik, jedes Atemholen von ›Hutch‹, der Sängerin. Sie drohten, das verdammte Grammophon kaputtzuschießen – und das wäre weiter nicht schwer gewesen; denn Leutnant Bruns hatte die Marotte, seinen Apparat immer an dem gleichen Fenster des Nordflügels aufzubauen.
Als der englische Lagerkommandant, den sie den ›Schulfuchs‹ nannten, an einem Spätherbstmorgen mit dem deutschen Lagerältesten, Major Fanelsa, um das Gartenhaus wanderte, konnte er es sich nicht verkneifen, eine Bemerkung über die unordentliche Aufführung deutscher Offiziere zu machen. Er ging steif, mit eisengrauem Haar unter der Mütze, die Goldbrille vor den farblosen Augen, vor Fanelsa her und schlug mitunter mit dem Stöckchen gegen die messerscharfen Bügelfalten seiner Uniform:
»Sie werden es mir nicht übel nehmen«, sagte er, »aber ich habe selbst einmal vor dreißig Jahren in Deutschland studiert. Damals habe ich Ihr Volk bewundert, Major. Das Volk der Dichter und Denker! Und nun hören Sie sich an, was Hitler aus diesen Menschen gemacht hat.«
Major Fanelsa hörte es so gut wie der ›Schulfuchs‹. Aber da er wußte, daß Dichten und Denken nicht genug Krach macht, um den Bau eines unterirdischen Tunnels zu übertönen, schwieg er weise.
So schön die Arbeit auch in den nächsten Tagen voranging, an ein Problem hatte niemand gedacht: der Stollen konnte nicht bewettert werden. Da er aus Gründen der Sicherheit so eng wie möglich gehalten wurde, konnte die Luft nicht zirkulieren. Das bedeutete, daß der Mann ›vor Ort‹ den vorhandenen Sauerstoff rasch verbrauchte und dann in Atemnot geriet. Anfangs redeten sich die beiden ›Hauer‹ ein, es sei Einbildung, und arbeiteten, bis ihnen schwarz vor Augen wurde. Dann aber, als sie noch ein Stück weiter vorgestoßen waren, mußten sie sich eingestehen, daß etwas an der Technik ihres Bergbaues nicht stimmte. Sie organisierten eine Wasserpumpe und versuchten, Frischluft nach vorn zu blasen. Es mißlang. Wasserpumpen sind anders konstruiert als Luftpumpen.
Die einzige Pumpe, die aufzutreiben war, gehörte der Lagerfeuerwehr. Es war die Urgroßmutter unter den Pumpen, mit einer Handwaage, die von zwei Männern auf und nieder gewippt wurde. In der Zeit, als sie hofften, mit diesem Monstrum Luft in den Stollen blasen zu können, sang der Lagerchor vornehmlich Walzerlieder. Leutnant Bein dirigierte oben, die Pumpenmänner unten mußten im Takt die Waage bewegen. Denn sie quietschte gräßlich, und es war Aufgabe des Chors, das Quietschen zu übersingen. Eines Tages erwischte ein Posten die beiden Luftmänner am Waagebalken. Er hätte Verdacht schöpfen müssen, aber er fiel einem grotesken Missverständnis zum Opfer. Er meldete seinem Vorgesetzten, Feldwebel Saftnase mit den Blumenkohlohren:
»Man sollte nicht glauben, was für ein kindisches Volk diese Deutschen sind. Finde ich doch heute zwei, die mit der Feuerpumpe Wipp-Wapp spielen. Wie die Babys im Kindergarten …«
Über Saftnase gelangte die Geschichte zurück zu den Gefangenen. Sie waren bereit, auch diesen Makel mit Würde zu tragen.
***
Der Tunnelbau wurde von Tag zu Tag schwieriger, und Werra und Manhart, die beiden Männer ›vor Ort‹, hatten eine physische Belastungsprobe durchzustehen, die sie oft an den Rand der Erschöpfung brachte. Sie standen mit den anderen auf, erschienen zum ›Roll-Call‹ (Morgenappell) um 8 Uhr, frühstückten hastig und verschwanden im Schacht. Zum Mittagessen erschienen sie nicht, was weiter nicht auffiel. Denn über die 150 Offiziere in der Messehalle wachte
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