Einer kam durch
verzweifelt schlug er mit den Beinen, hörte aber sofort auf, als er Werras Hand fühlte. Werra schob sich vorsichtig über Manharts Beine nach vorn und begann mit den Händen die eingebrochene Erde fortzuschieben. Nach einigen Sekunden fing Manhart wieder an zu strampeln. Offenbar war er am Ersticken. Werra kroch zurück und zog an seinen Füßen. Er preßte seine Nägel tief in das schwitzende Fleisch des anderen, um besseren Halt zu finden, und zog mit der Kraft der Verzweiflung. Manhart rutschte etwas zurück. Mehr Erde brach herunter. Noch ein paar Mal zog Werra mit aller Kraft, dann hörte er Manhart, halb erstickt, nach Atem ringen. Noch einmal … und noch einmal. Endlich war der Freund frei!
Werras Kopf fiel auf die Arme. Er war erledigt. Im Magen hatte er ein Gefühl, als schwämme er ziellos durch den Raum. In seinen Ohren rauschte es, sein Blut hämmerte. Fast wäre er ohnmächtig geworden; aber langsam erholte er sich und prüfte die Lage. Etwas in dem tiefen Dunkel ringsum schien sich verändert zu haben. Was?
Er richtete sich auf. Kalte, feuchte Luft zog träge durch den stinkenden Tunnel, strich wie mit eiskalten Fingern über seinen heißen, verschwitzten Leib …
Werra schüttelte Manharts Bein. »Luft, Walter! Luft!«
Manhart lag noch immer bewegungslos, keuchend und spuckend. Als er Werras Stimme hörte, packte ihn eine Art Panik. »Raus!« rief er angstvoll, »um Gottes willen, raus hier. Wir werden beide lebendig begraben. Das ganze Erdreich bricht zusammen …«
»Ruhig, Walter«, murmelte von Werra. »Versuch lieber, die Lampe zu finden. Merkst du nichts? Wir haben frische Luft. Lass uns doch erst mal sehen, was passiert ist!« Manhart beruhigte sich und tastete nach der Lampe. In dem allerschwächsten Lichtschein, der von irgendwoher in dieses Loch fiel, konnte Werra das Gesicht des Kameraden sehen. Es war voll Erde und Schweiß, die weißen Augenbälle leuchteten wie bei einem Neger, doch Manhart lächelte.
»Die haben es gut«, murmelte er und zeigte mit dem Daumen nach oben.
Über ihnen sang der Lagerchor des Leutnants Bein: »… faaaahren gegen Engelland – Engelland! Ahoi!«
Er suchte nach der Lampe, konnte aber nichts finden. Schließlich kletterten sie aus dem Tunnel und ruhten sich aus. Bei einer Zigarette beschlossen sie, für heute Schluß zu machen, sobald sie die Lampe gefunden hätten. Nach einigen Expeditionen gelang es ihnen auch. Sie schlossen den Stollen und wuschen sich. Der Schreck steckte ihnen noch einige Stunden in den Knochen.
Anderentags erwies sich der Einbruch dann als nicht so ernst, wie sie befürchtet hatten. Der Erdrutsch hatte eine große Wölbung genau über dem Rohr geschaffen. An der Decke konnte man jetzt mehrere dichte Windungen Stacheldraht sehen. Überrascht stellten sie fest, daß sie nicht unter dem Weg, sondern erst unter dem ersten Stacheldrahtzaun angelangt waren. Das war einerseits bedauerlich; aber wenn der Einbruch unter dem Weg passiert wäre, hätten sie bestimmt ›Ende‹ unter den Tunnelbau schreiben können.
Das Geheimnis dieses Zwischenfalls wurde ihnen erst langsam klar: Die Briten hatten eine Rolle Stacheldraht über dem Rohr eingebettet und den Rest des Grabens mit Dreck und Steinbrocken ausgefüllt. Durch die lockere Füllung filterte Frischluft von oben. Die Drahtrolle wirkte wie ein Netz, das den völligen Einbruch oberhalb des Rohres verhinderte.
Der Zweck der versenkten Drahtrolle sollte wohl sein, zu verhindern, daß sich Kriegsgefangene unmittelbar unter dem Zaun einen Weg in die Freiheit gruben. Aber da sie Luft in den Tunnel durchsickern ließ, bewirkte sie das Gegenteil. Sie rettete der ›Swanwick AG‹ das Leben. Von nun an ging der Tunnelbau rasch vorwärts. Werra und die anderen Fluchtanwärter begannen bereits, abends Pläne auszuarbeiten, wie sie aus England herauskommen wollten.
Es war selbstverständlich, daß der erste Ausbruch den fünf Männern zustand, die aktiv am Bau des Tunnels mitgearbeitet hatten. Sobald sie entflohen waren, sollte der Tunneleingang so gut wie möglich getarnt werden, um auch anderen Gefangenen nach einiger Zeit die Flucht zu ermöglichen.
Von den fünf Aktiven besaßen nur Werra und Wagner gute englische Sprachkenntnisse. Cramer, Wilhelm und Manhart verstanden Englisch leidlich gut, konnten jedoch nur die einfachsten Sätze glatt herausbringen.
Wagner und Wilhelm, die gemeinsam die Erde wegbefördert hatten, wollten auch gemeinsam fliehen. Sie hofften, nach Liverpool zu
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