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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Zweifel. Noch bevor er sich überhaupt Gedanken darüber machte, war ihm klar, dass sie ihm vorwerfen würde, er hätte nicht im besten Interesse ihres Vaters gehandelt. Und vielleicht stimmte das ja auch.
    Er würde sich selbstverständlich darauf berufen, dass Ballinger eindeutig unschuldig war und seine Chance bekommen sollte, das vor Gericht zu beweisen, damit später niemand auf die Idee käme, dass irgendwo Druck ausgeübt worden war, die Klage zurückzuziehen. Alles andere als ein Unschuldsbeweis würde auf einen »Freispruch mangels Beweisen« hinauslaufen, und der wäre eben nur ein Freispruch minderer Güte, vor allem dann, wenn kein anderer Tatverdächtiger erfolgreich vor Gericht gestellt werden konnte und Parfitts Ermordung ungesühnt blieb.
    Ginge es um seinen eigenen Vater, wie würde sich Rathbone dann entscheiden? Es konnte gut sein, dass er alles daransetzen würde, seine Unschuld zu beweisen. Dann wiederum hätte er Angst, dass irgendeine Lüge, ein falsch interpretiertes Indiz oder irgendeine Laune des Justizsystems einer himmelschreienden Ungerechtigkeit Tür und Tor öffnete. Zwischen Schuldspruch und Strick lagen nur drei Wochen, eine Zeitspanne, die viel zu kurz war, um ein Urteil aufzuheben oder Zweifel anzumelden, die massiv genug waren, um den Aufschub einer Hinrichtung zu erreichen.
    Und jetzt musste er sich darauf vorbereiten, Ballinger gegenüberzutreten. Davor graute ihm. Jäh wurde ihm bewusst, wie wenig er diesen Mann im Grunde kannte. Er wusste nicht einmal, ob er Angst zeigen, ob er zornig, demütig oder vorwurfsvoll vor ihn treten würde oder ob er vielleicht in eine Schockstarre verfallen war.
    Rathbone beugte sich zur Seite und spähte auf die Straße hinaus, um sich zu orientieren. Er erkannte den St. Margaret’s Arch, und gerade bogen sie in die East Cheap ab. Wahrscheinlich ging es weiter die King William Street hinauf und dann links durch Poultry und Cheapside nach Newgate. Vielleicht waren die Straßen verstopft, was ihm ein bisschen Zeit verschaffen würde, sich zu sammeln und zu überlegen, was er sagen konnte.
    Zehn Minuten später gab es einen Ruck, und sie hielten an. Rathbone stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, doch sie währte nur wenige Momente. Schon ging es weiter, und allzu bald stand er auf dem Straßenpflaster in der Sonne, überquerte die Straße und erreichte die Stufen zum Newgate-Gefängnis. Seine Gedanken wirbelten immer noch durcheinander und waren alles andere als klar.
    Ohne Wartezeit wurde ihm Zugang zu Ballinger gewährt, obwohl er für eine Verzögerung mehr als dankbar gewesen wäre. So trafen sie sich in einer kleinen Zelle mit Steinboden und primitiven Holzmöbeln, die gerade genügten, um reichlich unbequem zu sitzen, zwischen ihnen ein ramponierter Holztisch, auf dem man bei Bedarf Bücher oder Dokumente ablegen konnte. Es war nicht derselbe Raum wie derjenige, in dem Rathbone Rupert Cardew getroffen hatte, aber die Unterschiede waren unerheblich.
    Ballinger wirkte zerknittert und zornig, aber keineswegs unbeherrscht, wie das bei manchen Inhaftierten der Fall war, wenn ihnen unversehens entsetzliches Unglück drohte. Er war glatt rasiert und ordentlich gekämmt. Nichts an seinem Gesicht wies auf Hysterie hin, und seine Augen waren zwar etwas verquollen, was aber bei einem Mann, der eine Nacht lang wenig oder gar nicht geschlafen hatte, völlig normal war.
    »Guten Morgen, Oliver«, begrüßte er seinen Schwiegersohn und legte sogleich ohne Umschweife los. »Bevor du Zeit damit verschwendest: Ich werde hier anständig behandelt und genieße jeden Komfort, der mir zusteht. Margaret hat meinen Kammerdiener mit allem, was ich benötige, zu mir geschickt. Du wirst gar nicht mehr aufhören können, wenn du anfängst, dich für diese wunderbare Frau zu bedanken. Wenn du eines Tages mit Töchtern wie ihr gesegnet bist, kannst du dich wahrlich glücklich schätzen. Nun zu uns: Bist du bereit, mich in dieser … Farce zu vertreten? Ich will, dass die Einzelheiten sobald wie möglich geklärt und erörtert werden, bevor die halbe Welt davon Wind bekommt.« Er verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln, das nur ein entferntes Echo von Humor darstellte. »Vielleicht hilft mir das ja, die Ängste meiner Mandanten in Zukunft besser zu verstehen.«
    »Natürlich werde ich mich für dich einsetzen, wenn du dir sicher bist, dass du das wirklich willst«, antwortete Rathbone. »Aber hast du dir auch überlegt, ob es der Weisheit letzter Schluss ist,

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