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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Lieblingstochter, sondern als seinem Anwalt, der die Pflicht hatte, die ganze Wahrheit zu sehen, weil er ihn nur dann nach seinen besten Möglichkeiten verteidigen konnte?
    In aller Eindringlichkeit wurde Rathbone bewusst, wie wenig er über diesen Mann außer in seiner Rolle als Ehemann und Familienvater wusste. Wie war er, wenn er allein war? Was waren seine Träume, seine Ängste, seine Freuden? Wer war er ohne die Maske? Rathbone hatte nicht den Schimmer einer Ahnung.
    Ballinger starrte ihn an, immer noch unschlüssig, welche Antwort er geben sollte.
    »Bist du im Auftrag eines Mandanten aufgetreten?«, wiederholte Rathbone.
    Endlich schien Ballinger eine Entscheidung getroffen zu haben. »Nein. Ich habe den Abend bei Bertie Harkness verbracht, dann bin ich auf dieselbe Weise heimgefahren, wie ich gekommen war, also mit der Fähre zurück nach Chiswick. Es kann sein, dass ich an Parfitts widerwärtigem Boot vorbeigekommen bin, aber wie dir der Fährmann bestätigen wird, war es eine Überfahrt ohne besondere Ereignisse. Ich habe nichts gesehen oder gehört, das irgendwie unrechtmäßig gewesen wäre. Für alle Uhrzeiten gibt es Zeugen. Und wenn ich Parfitt im Namen irgendeines Mandanten ausgezahlt hätte, dann hätte ich doch genug Verstand besessen, um es nicht heimlich und allein zu tun.« Er atmete tief ein. »Um Himmels willen, Oliver, überleg doch! Würdest du in der Nacht allein um Boote herumschleichen, um für einen Mandanten ein völlig legales Geschäft abzuwickeln, egal wie verzweifelt oder leichtsinnig der Mandant sonst gewesen sein mag?«
    »Nein«, antwortete Rathbone, ohne zu zögern. Dennoch war er nicht überzeugt. Das alles klang vernünftig, reichte aber nicht für eine Verteidigung. »Aber wir brauchen mehr als bloßes Leugnen.«
    Ballinger brachte ein angestrengtes, düsteres Lächeln zuwege. »Sie müssen beweisen, dass ich dort war, dass ich im Besitz von Rupert Cardews Halstuch war und dass ich einen zwingenden Grund hatte, Parfitt zu töten. Aber nichts davon wird ihnen gelingen, weil nichts davon wahr ist. Ja, ich war auf dem Heimweg am Fluss, aber nur, um ihn von Süden nach Norden zu überqueren. Ich befand mich auf einer Fähre, und dafür wird der Schiffer bürgen. Am Nordufer nahm ich einen Hansom direkt nach Hause. Niemand kann etwas anderes beweisen, weil das die Wahrheit ist.«
    »Bist du sicher, dass du keine Beziehungen mit Parfitt unterhalten hast?«, drängte Rathbone.
    »Menschenskind, was für Beziehungen sollen das gewesen sein?«, protestierte Ballinger. »Nach allem, was ich von dir höre, ist der Mann unsäglich!«
    »Immerhin warst du bereit, dich für Jericho Phillips einzusetzen. Und für Sullivan, der an diesen widerwärtigen Machenschaften teilhatte und ihm Erpressungsgelder zahlte. Dem Strafverfolger dürfte es nicht schwerfallen, dir zu unterstellen, du hättest dasselbe für Parfitt getan oder für eines seiner Opfer.«
    Ballinger schluckte. Sein Gesicht war immer noch aschfahl; seine Körperhaltung die eines in die Enge getriebenen Mannes. »Ich habe mich für Sullivan eingesetzt, weil der Mann verzweifelt war.«
    Die nächste Frage konnte Rathbone nicht länger hinausschieben, ohne vorsätzlich zu lügen, sowohl vor Ballinger als auch vor sich selbst. Bisher hatte er so getan, als bräuchte er keine Antwort, doch das rächte sich jetzt: Nichts zu wissen wirkte sich aus wie ein schleichendes Gift.
    »Sullivan sagte mir, dass du derjenige warst, der ihm die Pornografie nahebrachte, und dass du als Finanzier hinter Phillips standest.«
    Ballinger starrte ihn entsetzt an.
    Die Sekunden verstrichen.
    Ballinger schluckte heftig. »Das hat er dir gesagt?«, fragte er ungläubig.
    »Ja.«
    »Und du hast … bis heute geschwiegen?«
    »Ich zog es vor zu glauben, das sei eine hysterische Beschuldigung, ausgestoßen von einem Mann, den die Verzweiflung seiner Sinne beraubt hatte und der unmittelbar davorstand, Selbstmord zu begehen.«
    »Genauso war es auch.« Ballinger sog sich die Lungen mit Luft voll, und obwohl es in der Zelle kalt war, rannen Schweißperlen über sein Gesicht. »Mein Gott, jetzt wird mir Monks geisteskrankes Verhalten klar! Du hast mit ihm gesprochen, richtig!« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, eine, die fast wie ein Vorwurf klang.
    Das brachte Rathbone aus dem Konzept, als wäre er derjenige, der sich ins Unrecht gesetzt hatte. Er war nahe daran, sich zu rechtfertigen.
    »Willst du mir sagen, dass du mit Sullivans Verhalten nichts

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