Einer trage des anderen Schuld
bemerkte Rathbone. Warum forderte er mit seinem kühlen Verhalten einen Streit geradezu heraus? Sie wollte doch nur, dass ihr Vater von jedem Makel oder Schatten eines Verdachts, ein Missetäter zu sein, befreit wäre. War das nicht natürlich? Würde er nicht genau dasselbe tun, wenn es um seinen Vater ginge?
Würde Lord Cardew nicht ebenso hart, ja, verbissen für Rupert kämpfen, wenn es für ihn kritisch wurde? Würde er dann erneut ihn, Rathbone, bitten, ihn zu verteidigen? Und würde er annehmen?
Wäre Monk dann noch Kommandant der Wasserpolizei und in der Lage, den Fall zu verfolgen? Oder wäre bis dahin ein Neuer an seine Stelle getreten?
Hester hätte diese Form der Loyalität nicht als Selbstverständlichkeit empfunden. Sie war viel komplexer, innerlich von gegensätzlichen Leidenschaften und Überzeugungen zerrissen. Doch zumindest in diesem Moment fiel es ihm leichter, sie zu verstehen; sie würde um Hattie trauern; sie würde ihren Tod nicht als unvermeidbar hinnehmen; und sie würde um Rupert Cardew wie auch um seinen Vater weinen. Und Monk? Er gehörte zu ihr. Sie würde für ihn kämpfen – leidenschaftlich und ohne Gedanken an Verletzungen, Erschöpfung oder vorübergehende Niederlagen, kurz: nicht anders als Margaret. Aber würde Hester blind darauf vertrauen, dass Monk stets im Recht war? Das glaubte er nicht. Es würde ihre Liebe zu ihm nicht mindern, aber sie würde den Gedanken zulassen, dass er sich möglicherweise getäuscht hatte, mehr noch, dass er sich in moralischer wie sachlicher Hinsicht geirrt hatte.
War das gut oder schlecht?
Margaret starrte ihn an, Verwirrung und Zorn in den Augen. »Wenn er schuldig ist, verdient er es nicht anders«, erklärte sie. »Das gefällt mir nicht, aber ich akzeptiere es. Du etwa nicht?«
»Ich weiß nicht. Mir fällt es nicht so leicht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.«
»Er hat Parfitt und wahrscheinlich auch Hattie ermordet, und jetzt wartet er darauf, meinen Vater dafür hängen zu sehen. Was ist daran so kompliziert?« Aus ihrem Gesicht sprachen Herausforderung und Härte, nichts, was ihn einlud, es zu berühren.
»Es zu beweisen«, erwiderte Rathbone kühl. »Aber morgen werde ich zu deinem Vater gehen und ihn bitten, mir mitzuteilen, wie hartnäckig ich diesen Komplex verfolgen soll. Er hat bis Montag Zeit, sich zu entscheiden. Wie die Dinge im Moment stehen, haben wir gute Chancen, einen Freispruch wegen begründeter Zweifel zu erreichen. Ich könnte ihn in den Zeugenstand rufen; dann könnte er seine Unschuld beteuern. Andererseits böte das Winchester die Gelegenheit, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Das wäre ihm vielleicht nicht so recht. Die Wahl liegt also bei ihm, nicht bei dir oder mir.« Den letzten Satz sprach er mit einer Bestimmtheit aus, die das Thema und jede weitere Diskussion beendete. Sein Ton war kalt, und das wusste er, doch er fühlte sich innerlich kalt, als wäre eine Tür geschlossen worden und er wüsste nicht, wie sie sich wieder öffnen ließ.
Am nächsten Morgen begab sich Rathbone zu Arthur Ballinger ins Newgate-Gefängnis. Er musste warten, bis man Ballinger zu ihm in die Besuchszelle führte. Im fahlen Licht wirkte er müde, und zum ersten Mal wurde Rathbone eindringlich bewusst, welche Angst dieser Mann ausstand. Plötzlich fühlte er Mitleid mit Margaret und wünschte, er wäre sanfter zu ihr gewesen, doch jetzt ließ sich das womöglich nie mehr wiedergutmachen.
»Oliver!«, rief Ballinger scharf. »Wieso bist du hier? Ich dachte, es läuft gut!«
»Das tut es auch«, versicherte Rathbone ihm. Warum nur fühlte er sich bei diesem Mann immer so unbehaglich? Bei anderen passierte ihm das nie. Und er hatte mit zahllosen Mandanten in ähnlichen Situationen gesprochen, sowohl mit Verbrechern als auch mit Unschuldigen. Er räusperte sich. »Ich muss wissen, ob du persönlich eine Aussage machen möchtest oder nicht. Du hast mit deiner Entscheidung noch bis Montag Zeit, aber du musst sie sehr sorgfältig überlegen.«
»Warum sollte ich nicht aussagen?«
»Weil es Winchester die Möglichkeit gibt, dich ins Kreuzverhör zu nehmen, und dann kann ich dich nicht mehr vor seinen Äußerungen schützen, noch kann ich ihren Inhalt vorhersehen. Unterschätze den Mann nicht. Wie die Dinge im Augenblick stehen, haben wir gute Aussichten auf einen Freispruch, weil mehr als begründete Zweifel bestehen.«
»Zweifel?«, ächzte Ballinger. »›Begründete Zweifel‹ anzumelden ist doch dasselbe, wie zu sagen,
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