Einer trage des anderen Schuld
Straße wimmelt es ja von Mädchen.«
»Diese eine ist aber von ungewöhnlichem Aussehen. Sie hatte auffallend blondes Haar, fast weiß. Und eine wunderschöne Haut. Übermäßig hübsch war sie allerdings nicht, sie wirkte nur irgendwie … unschuldig. Sehr reinlich, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie blickte ihn voller Hoffnung an.
»Dienstag, haben Sie gesagt?«
»Ja. Haben Sie sie bemerkt? Ungefähr um dieselbe Zeit, vielleicht etwas früher.«
»Und mit wem, haben Sie gesagt, war sie zusammen?«
»Das weiß ich nicht. Eine andere Frau vielleicht …«
»Älter, hm? Sah irgendwie ehrbar aus. Ein bisschen mollig. Braunes Haar.«
»Ja! Das könnte stimmen!« Hester hatte keine Vorstellung davon, wer das sein konnte. Sie tappte immer noch im Dunkeln. »Sie sind Ihnen tatsächlich aufgefallen. Wohin sind sie gegangen?«
»Wie soll ich das wissen? Da rauf?« Er deutete nach Norden, um die Kirche herum.
»Zur Kirche? In die St. Bartholomew’s?«
Er verdrehte die Augen. »Aber nein, Schätzchen, zum Droschkenstand dahinter, wo die Hansoms warten. Dort kriegt man immer einen.«
»Oh!« Jetzt wurde ihr heiß im Gesicht. »Ja, natürlich! Wie, haben Sie gesagt, sah die andere Frau aus? Was für Kleider trug sie?«
»Wofür halten Sie mich? Daran erinner’ ich mich doch nich’ mehr. Es war nix Besonderes, so viel kann ich Ihnen sagen. Bis auf ihre Handschuhe. Sie hatte wirklich gute Handschuhe. Leder. Und am Bund mit ’nem kleinen Muster bestickt. Auf dieser Höhe.« Er deutete auf sein Handgelenk. »Muss sie geklaut haben, oder sie hatte vielleicht ’nen Freier mit viel Geld.«
»Können Sie sie noch ein bisschen genauer beschreiben? Wie sah ihre Haut aus? Ihre Zähne?«
»Hä?«
»Ihre Haut? Ihre Zähne?«, wiederholte Hester.
»Wie soll ich das wissen?«, rief der Mann ungehalten. »Ihre Zähne sahen aus wie … Zähne eben! Irgendwie gepflegt, wenn ich es recht bedenke.«
Hester pochte das Herz zum Zerspringen. »Vorn ein bisschen schief, aber hübsch?«
»Genau! Stimmt. Kennen Sie sie? Is’ sie auch aus Ihrem Haus?«
»Vielleicht.« Stimmte das mit den Zähnen, oder hatte sie ihm diese Idee in den Kopf gesetzt, und er versuchte nur, ihr gefällig zu sein und sich weiteren Fragen zu entziehen? »Vielen Dank.« Sie aß ihr Sandwich auf, bedankte sich noch einmal und lief dann eilig zu dem Stand für die Hansoms hinüber.
Die Beschreibung, die er ihr gegeben hatte, passte auf eine der Frauen, die im Gerichtssaal neben Margaret und ihrer Mutter gesessen hatten. Oder auf jede andere Frau in London mit hübschen, leicht schiefen Zähnen und genügend Geld, um sich gute Handschuhe zu kaufen. Aber von allen Londonerinnen hatte Margarets Schwester ein Motiv, ihr und ihrem Vater zu helfen, indem sie Hattie Benson aus der Klinik lockte und an einen anderen Ort … Ja, wohin hatte sie sie gebracht? Hatte sie gewusst, dass sie sie in den Tod führte, oder hatte sie sich eingebildet, es wäre einfach ein Haus, wo man sie festhalten würde, bis es zu spät für eine Aussage war?
Es erforderte den ganzen Rest des Tages und mehr Geld, als sie sich eigentlich für Hansoms, Sandwiches, Tee und kleine Bestechungen leisten konnte, aber schließlich hatte sie doch einiges in Erfahrung gebracht. Eine halbe Stunde nachdem Margaret Hattie aus der Klinik in der Portpool Lane geführt hatte, waren zwei Frauen, deren Äußeres den Beschreibungen von Hattie und Gwen oder Celia entsprach, mit einem Hansom von der St. Bartholomew’s Church in die Avonhill Street in Fulham gefahren, von wo es nach Chiswick nur noch ein Katzensprung war.
Eine weitere Stunde, gefüllt mit zähen Befragungen und frei erfundenen Notlügen, später brachte die Abenddämmerung Hester die Gewissheit, in welchem Haus sich Hattie ein paar Stunden lang aufgehalten hatte.
»Jaaa«, stöhnte die Eigentümerin widerwillig, als Hester in ihrer Haustür stand, und trocknete sich die Hände an ihrem Rock ab. »Was wollen Sie denn damit anfangen? Das is’ ein anständiges Haus, und hier wird nich’ rumgehurt. Das war ’ne vornehme Dame, die sie hierhergebracht hat. Hat gesagt, dass sie ein paar Tage bleibt.«
»Aber so lange ist sie nicht geblieben, oder?«, drängte Hester. »Nach wenigen Stunden war sie wieder weg.«
»Dann hat sie’s sich eben anders überlegt. Gezahlt is’ jedenfalls worden. Was kümmert mich der Rest?«
»Mit wem ist sie weggegangen?« Hester spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte und ihre Hände klamm
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