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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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rein intellektuellen Ebene würde er wohl daran glauben, dass die Wahrheit siegen musste. Würde er dann darauf bestehen zu kämpfen, oder würde er leiser, vorsichtiger auftreten und die Bereitschaft zeigen, sich mit dem geringeren Preis zufriedenzugeben?
    Vielleicht würde er zu Letzterem neigen. Monk würde das nicht tun. Hester würde keinen Gedanken daran verschwenden. Sie würde immer aufs Ganze gehen, um die allerbeste Lösung, den Sieg, kämpfen und entweder alles gewinnen oder verlieren. Aber war sie weise?
    Wichtiger noch, würde sie auch so handeln, wenn es um jemand anders ging, wenn sie jemanden medizinisch versorgte, der körperlich oder geistig nicht mehr in der Lage war, seine Entscheidungen selbst zu treffen, und in allem von ihr abhängig war? Nein! Hier wusste er die Antwort, ohne zu überlegen. Niemals würde sie das Leben eines anderen Menschen aufs Spiel setzen.
    Aber ein von Wundbrand befallenes Glied würde sie amputieren, ehe der Patient am ganzen Körper infiziert wurde und starb.
    »Oliver!«, mahnte Ballinger ihn scharf.
    »Ich denke, du solltest einen anderen Weg finden, dich zu rehabilitieren. Du könntest Monk oder sonst wem nach Kräften helfen, den wahren Schuldigen zu überführen und vor Gericht zu stellen. Das wird eine Weile dauern, aber …«
    »Nein!«, erklärte Ballinger entschieden. »Ich mache das jetzt auf meine Weise. Ich lasse nicht zu, dass meine Familie noch länger diesem Grauen ausgesetzt wird. Menschenskind, du kannst von mir nicht erwarten, dass ich mein Schicksal in die Hände dieses William Monk lege!«
    »Aber …«
    »Weigerst du dich etwa, meine Anweisungen zu befolgen, Oliver?«
    »Nein. Ich berate dich, aber letzten Endes werde ich deine Wünsche selbstverständlich berücksichtigen.« Rathbone kam sich bei diesen Worten vor wie ein Feigling, der seinen Auftraggeber hinterrücks betrogen hatte, doch er hatte keine Wahl.
    Nachdem sie die Strategie noch etwas ausführlicher erörtert hatten, verließ Rathbone das Gefängnis. Draußen durchnässte ihn ein Schauer bis auf die Haut, ehe er einen Hansom ergattern konnte. Das passte perfekt zu seiner Stimmung.
    Er vermochte es nicht, seine Gedanken von der Sache zu lösen. Am späten Vormittag ging er in die Klinik in der Portpool Lane in der vagen Hoffnung, Hester dort anzutreffen, obwohl es Samstag war. Von ihr versprach er sich genauere Auskunft darüber, was Hattie Benson zugestoßen war. Als er durch den vertraut gewordenen armseligen Eingang schritt, beschlichen ihn Schuldgefühle. Eines der Mädchen, das ihn hier schon einmal gesehen hatte, begrüßte ihn freudig.
    Er fühlte sich schuldig, weil er den Wunsch hatte, mit Hester und nicht mit seiner Frau zu sprechen, auch wenn er eine Abfuhr riskierte oder sich von ihr Dinge sagen lassen musste, die er lieber nicht gehört hätte. Hester vertrat ihre Überzeugungen auf sehr direkte Weise. Er konnte sich nicht erinnern, in ihrer langen Freundschaft jemals erlebt zu haben, dass sie versucht hätte, ihn zu manipulieren. Es hatte weiß Gott schwierige Zeiten, einige Auseinandersetzungen und viele Meinungsverschiedenheiten gegeben. Er hatte sie für unverschämt gehalten und ihr das auf den Kopf zugesagt. Sie hatte ihn für anmaßend gehalten und ihm das auf den Kopf zugesagt. Aber sie waren aufrichtig gewesen, nicht nur im Wort, sondern auch in ihren Absichten. Und das wäre ihm gerade jetzt sehr willkommen.
    Während er mit Squeaky Robinson sprach, der hier lebte und immer im Haus war, merkte er, dass er noch eine andere Art von Schuld empfand. Diese bereitete ihm sogar noch größeres Unbehagen, und seine Angst vor all dem, was er hier erfahren mochte, wuchs.
    »Oben«, brummte Squeaky und deutete mit einem Finger über seine Schulter. »Sie kann einfach nich’ aufhören. Sollte endlich mal daheim sein. Aber der Junge is’ mit Monk unterwegs. Auf dem Boot oder so was.«
    Rathbone bedankte sich hastig und ging weiter, bevor Squeaky ihn in ein Gespräch verwickeln konnte. Trotz der Enge jagte er die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf. Er kannte hier jede knarzende Bohle, jede Unebenheit und fand seinen Weg blind, ohne zu stolpern.
    Hester machte gerade die Betten in einem der größeren Zimmer, das gegenwärtig nicht belegt war. Sie hörte die Tür quietschen und drehte sich um. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung.
    »Oliver?« Sie ließ das Laken auf das Bett fallen, und Rathbone stieg der angenehme Geruch von frisch gewaschener

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