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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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keine Wertvorstellungen ein, keine Gedanken oder Erwägungen, die sie nicht im Laufe der Jahre miteinander erörtert hatten. Ihr Vertrauen zueinander war so tief, dass sie nie darüber hatten sprechen müssen. Es war so sicher wie der Sonnenaufgang; und es war diese Sicherheit, die ihnen über alle sonstigen Zweifel hinweghalf, sodass er nie einen Sturz ins Bodenlose zu befürchten brauchte.
    »Oliver?«
    Er hörte ihre Stimme, doch es dauerte einen Moment, bis er wieder in die Gegenwart zurückfand, zu dem Zimmer in der Klinik, dem Bett mit den sauberen Laken darauf und zu Hester, die ihn anblickte.
    »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie besorgt.
    »Das weiß ich nicht. Ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich nehme an, Sie sind sich all dessen vollkommen sicher?«
    »Ja«, antwortete sie mit sanfter Stimme. »Margaret hat es mir selbst gesagt, als ich sie zur Rede stellte. Sie hat keine Ausflüchte gemacht. Dass es Gwen war, hat sie allerdings nicht zugegeben. Das habe ich mir selbst zusammengereimt, als ich auf die Straßen hinausging und die Leute befragte. Ich bin auf einen Straßenhändler gestoßen, der Hattie mit einer anderen Frau gesehen hatte und sie mir beschrieb. Ich habe den Hansom ausfindig gemacht, den sie nach Fulham bis direkt zu diesem Haus genommen haben. Ich bin dann mit demselben Kutscher zum selben Haus gefahren und habe mit dessen Eigentümerin gesprochen. Es besteht eine Möglichkeit von vielleicht eins zu hundert, dass ich mich täusche. Vielleicht war es am selben Tag und zur selben Zeit eine andere Frau, die zufällig Hattie glich wie ein Ei dem anderen. Und vielleicht mietete ein anderer Mr Cardew das Zimmer für sie. Aber es war unsere Hattie, die am nächsten Tag nur eine Meile von dort entfernt tot im Fluss auftauchte.«
    »Eins zu hundert?«, meinte Rathbone bitter. »Vielleicht eins zu einer Million.«
    »Es tut mir leid.«
    »Hat die Hausbesitzerin Cardews Gesicht gesehen?« Es war ein letzter verzweifelter Versuch. Und noch während er fragte, wusste Rathbone bereits, dass es genau das war.
    »Nein. Er hatte sich im Dunkeln postiert und war mit einem schweren Mantel und einem Hut bekleidet. Es hätte jeder sein können.«
    Dazu fiel Rathbone nichts mehr ein, nichts, das den zunehmenden Schmerz in seinem Inneren hätte lindern können.
    »Danke … Ich …«
    Hester schüttelte den Kopf. »Ich weiß. Winchester wird mich nicht aufrufen. Und Sie sollten auch darauf verzichten. Ich kann nichts aus erster Hand bezeugen. Tun Sie einfach das, was Sie für das Richtige halten.«
    »Das Richtige!«, brach es voller Verbitterung aus ihm hervor. »Mein Gott, was ist das?«
    »Glauben Sie denn, dass Ballinger schuldig ist?«, fragte Hester.
    »Ich weiß es nicht. Ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Wahrscheinlich befürchte ich es. Wenn er es ist, erleben wir eine Hölle auf Erden.« Er meinte es so, wie er es sagte: Nichts von der Katastrophe, die er sich in seinen schlimmsten Befürchtungen ausmalte, war übertrieben.
    Sie blickte ihm in die Augen. »Würden Sie Rupert Cardew hängen lassen, um Ballinger zu retten, weil er Ihrer Familie angehört und Rupert nicht? Wenn Sie dazu bereit sind, Oliver, was ist das Gesetz dann noch wert? Was, wenn Lord Cardew genauso dächte und alle möglichen Leute hängen ließe, ob schuldig oder nicht, Hauptsache, sein eigener Sohn müsste sich nicht sich selbst und seinen Taten stellen? Würden Sie das akzeptieren? Ist es wirklich das, woran Sie glauben: ein Gesetz für Ihre Familie und ein anderes für den Rest der Welt?«
    »Aber was wird aus Loyalität, was wird aus Liebe?«, fragte er.
    »Was kann man denn noch geben, wenn man sich selbst weggegeben hat?«
    »Hester …«
    »Es tut mir leid. Es gefällt auch mir nicht immer, aber an etwas anderes kann ich nicht glauben. Das heißt nicht, dass man aufhört zu lieben. Wenn man nur für diejenigen sorgen könnte, die immer gut sind, würde keiner von uns geliebt werden. Es tut mir leid.«
    Rathbone nickte. Kurz berührte er ihre Hand, dann wandte er sich zum Gehen.
    Zur Essenszeit traf er zu Hause ein. Margaret wartete bereits auf ihn.
    »Wo warst du?«, fragte sie mit scharfer Stimme. »Du hast nicht gesagt, dass du ausgehen wolltest.«
    »Ich habe das Haus verlassen, als du noch im Bett lagst.« Irgendwie hatte er das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. »Ich war bei deinem Vater. Er will aussagen. Das halte ich nicht für ratsam, aber er ließ es sich von mir nicht

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