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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Kummer verursachen. Es tut mir leid.« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Der schmerzliche Ausdruck auf seinem Gesicht, der gequälte Ton von Hilflosigkeit in seiner Stimme sprachen für sich.
    Es wurde spät, und draußen verblasste das Licht. In dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter, und das Zwielicht ließ allmählich die Farben des Landes schwinden. Der Wind war warm, doch böig und wirbelte die gelben Blätter durch die Luft.
    Henry stand auf. »Lass uns ein bisschen rausgehen«, schlug er vor. »An den Bäumen hängen immer noch ein paar gute Äpfel. Ich hätte inzwischen eigentlich alle pflücken sollen.«
    Oliver folgte ihm durch die Terrassentür auf die Rasenfläche und weiter in den Garten. An den Hecken prangten prächtige Hagebutten, Apfelrosen, allesamt in leuchtendem Rot, und die dunkleren Rotdornbeeren, die im Mai so herrlich geblüht hatten. Hier mischte sich der kräftige, süße Geruch von faulendem Laub und feuchter Erde mit dem schärferen, in der Nase kitzelnden Aroma von Holzrauch. Ein paar Astern zeigten ihre zotteligen lila Blüten, zu denen sich das Bronze und Gold der Crysanthemen gesellten.
    Hinter den Pappeln wirbelte ein Schwarm Stare, die sich für den Heimweg vorbereiteten, in den sich verdunkelnden Himmel.
    Das alles war unendlich vertraut, tief in seinem Herzen und Sinn verwurzelt und eng mit all seinen Erinnerungen und Träumen verwoben. Es würde absurd, ja, nachgerade peinlich klingen, wenn er es laut sagte, aber seine Liebe zu seinem Vater war von einer solchen Intensität, dass er den Gedanken an ein Leben ohne seine Freundschaft nicht ertragen konnte. Würde Henry Olivers Sicherheit und Glück höher bewerten, als er das bei Margaret tun würde? Oliver brauchte sich die Frage gar nicht erst zu stellen, er wusste die Antwort bereits. Oliver, Henrys Sohn, käme bei ihm immer an erster Stelle.
    Gleichzeitig wusste Oliver aber auch, dass Henry Rathbone niemals die Dinge tun würde, die sogar er Arthur Ballinger zutraute. Natürlich, auch sein Vater machte Fehler, hatte Charakterschwächen. Wer war schon vollkommen? Welche das waren, wollte sich Oliver jetzt nicht vor Augen führen, aber er wusste, dass es sie gab.
    Im selben Maße hatte er allerdings auch die Gewissheit, dass Henry niemals einen anderen Menschen gebeten hätte, an seiner Stelle eine Schuld auf sich zu nehmen.
    Glaubte Margaret dasselbe von ihrem Vater? Waren ihre Erinnerungen an ihn nicht minder mit ihrem Leben, ihren Überzeugungen verflochten? Oliver musste ihr gegenüber gerecht sein.
    Doch sein Verhalten hatte nichts mit Ehrgeiz oder Liebe zu tun. Es ging ihm um seine eigene Identität. Margaret verlangte von ihm, dass er sich selbst zerstörte. Aber wenn er das tat, blieb nichts mehr für ihn oder sie übrig. Es war keine Frage eines Opfers; eine solche Entscheidung wäre vielleicht noch schwerer gewesen. Es drehte sich vielmehr darum, dass er etwas tun sollte, von dem er glaubte – nein, wusste  –, dass es falsch war.
    Henry schien sich ein Urteil über die ganze Angelegenheit gebildet zu haben. Er sprach das Thema nicht noch einmal an. Sie kehrten um und schlenderten gemeinsam zwischen den Apfelbäumen hindurch zum Haus zurück.
    Daheim verbrachten Rathbone und Margaret das Wochenende in bitterem Schweigen und behandelten einander mit ausgesuchter Höflichkeit.
    Am Montag suchte Rathbone in der Morgendämmerung noch einmal Arthur Ballinger auf, um ihn zu einem Verzicht auf eine Aussage zu bewegen. Nach dem Stand der Dinge hatte er gute Aussichten auf einen Freispruch. Seine Unschuld konnte er auch später beweisen, sobald ein anderer angeklagt wurde.
    Doch Ballinger blieb stur. Er würde den Gerichtssaal nicht verlassen, solange diese Beschuldigung wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte, ihn lähmte und das Leben seiner Angehörigen überschattete und vergiftete.
    Nicht einmal die Gefahr eines Schuldspruchs konnte ihn abschrecken. Er glaubte schlichtweg nicht daran, dass das passieren würde.
    War das Selbstüberschätzung, oder war er wirklich unschuldig? Hatte am Ende er, Rathbone, ihn auf tragische Weise falsch eingeschätzt? Er betrat den Gerichtssaal voller Zweifel.
    Kaum hatte er Ballinger in den Zeugenstand gebeten, breitete sich auf den Rängen aufgeregtes Tuscheln aus. Dann kehrte Stille ein. Die Leute erstarrten in gebannter Aufmerksamkeit.
    Ballinger erklomm die Stufen des Zeugenstands. Er wirkte blass, aber gefasst, so ernst, wie es sich für einen Beschuldigten ziemte, und zeigte

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