Einer trage des anderen Schuld
ein Kind! Er wich schon zurück, als die Tür doch noch geöffnet wurde und Henry Rathbone schmutzig und struppig, eine Harke in der Hand, vor ihm stand. Er war größer als Oliver, schlank und nur geringfügig vom Alter gebeugt. Sein schütteres graues Haar war vom Wind zerzaust, seine blauen Augen schimmerten.
»Du siehst ja schrecklich aus«, bemerkte er. »Komm mal besser herein. Aber bezahl vorher den Kutscher.«
Den Hansom hatte Oliver bereits vergessen. Er bezahlte den Mann, bedankte sich und kehrte dann zum Haus zurück.
»Wo ist … du weißt schon, wer …?«, erkundigte er sich. Den Namen des Dieners seines Vaters konnte er sich nie merken.
»Samstagnachmittag«, antwortete Henry Rathbone. »Der arme Mann muss ja auch ein bisschen freie Zeit haben. Er hat irgendwo einen Enkel. Setz doch schon mal Wasser für den Tee auf. Ich wasche mir nur die Hände und räume die Gartengeräte weg. Und dann kannst du mir sagen, was geschehen ist. Ich nehme an, es hat mit dem Prozess gegen deinen Schwiegervater zu tun. Halb London spricht darüber.« Er übertrieb nur selten.
Oliver gehorchte. Zehn Minuten später saßen sie in den großen, alten Sesseln links und rechts vor dem Kaminfeuer im vertrauten Salon mit seinen Aquarellen an den Wänden und den Reihen um Reihen von Bücherregalen. Die Luft war bereits durchdrungen vom Duft des dampfenden Tees. Auf einem Teller lagen mehrere Stücke Obstkuchen. Sie waren reichhaltig und äußerst verlockend, obwohl Oliver das Gefühl hatte, er würde nie wieder Hunger verspüren.
»Du steckst in einem Dilemma. Worin besteht es?«, fragte Henry.
»Ich weiß von keinem Dilemma«, erwiderte Oliver. »Ich sehe ja nur eine einzige Möglichkeit, aber die ist schrecklich. Ich nehme an …« Er hielt inne, unsicher, ob es wirklich das war, was er sagen wollte.
Henry nahm sich eines der Kuchenstücke und biss hinein. Er wartete.
Vorsichtig, um sich nicht zu verbrühen, begann Oliver, an seinem Tee zu nippen.
Mehrere Minuten vergingen in Schweigen, das angenehm war, aber dennoch mit Worten gefüllt werden musste, die das Problem fassbar machten.
»Von dir wird verlangt, dass du etwas tust, das du verabscheust«, sagte Henry schließlich. »Wenn du von Ballingers Unschuld überzeugt bist, wirst du vermutlich Beweise für die Schuld eines anderen vorlegen müssen. Rupert Cardew? Ist es Lord Cardew, den leiden zu sehen dir so sehr widerstrebt?«
»Genau das kann ich nicht tun!«, stieß Oliver hervor. »Die Indizien sind mit Makeln behaftet, mit üblen Makeln. Winchester würde sie in der Luft zerreißen und Ballinger noch schlechter aussehen lassen.«
»Und du fürchtest, dass Ballinger schuldig ist? Wenn schon nicht des Mordes an Parfitt, dann eines anderen Verbrechens, vermutlich der Finanzierung des Boots – oder, schlimmer noch, der Benutzung Parfitts für Erpressung in großem Stil?«
Jetzt war sie heraus: schlicht und verblüffend schmerzhaft, die Wahrheit in der milden, präzisen Stimme seines Vaters. Oliver brauchte nicht zu antworten – es musste ihm am Gesicht abzulesen sein –, dennoch tat er es. Sie waren seit jeher offen zueinander gewesen. Soweit Oliver sich erinnern konnte, hatte sein Vater nie um Vertrauen gebeten oder erklärt, wie sehr ihm daran lag – aber es wäre auch völlig überflüssig, um nicht zu sagen absurd gewesen, über etwas zu reden, das so selbstverständlich war wie das Atmen oder das Sonnenlicht.
»Ja. Und was noch schlimmer ist: Ich fürchte, dass Hester recht hat und er auch das Mädchen ermordet hat, das Rupert Cardew das Halstuch gestohlen und es einem von Parfitts Helfern, wenn nicht sogar Ballinger höchstpersönlich, gegeben hatte.«
Henry richtete sich in seinem Sessel auf, und sein Gesicht wurde noch ernster. »Davon hast du mir bisher noch nichts erzählt. Ich denke, das solltest du jetzt nachholen.«
Ruhig und mit einfachen Worten berichtete ihm Oliver alles, was er wusste, einschließlich seines Gesprächs mit Hester an diesem Morgen. Nur über seinen Streit mit Margaret berichtete er nicht. Diese Wunde war noch zu frisch, sodass er sich auf Andeutungen beschränkte und die Details aussparte.
»Ich verstehe«, murmelte Henry, als Oliver zu Ende berichtet hatte. »Ich fürchte, dir steht wirklich sehr viel Ärger bevor, und wünschte, ich könnte ihn dir aus dem Weg räumen, aber das ist nicht möglich. Es gibt keinen ehrbaren Weg, außer beherzt voranzuschreiten, denn alles andere würde letztlich noch größeren
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