Einer trage des anderen Schuld
verliert er schnell die Beherrschung. Wiederholt hat er Leute brutal zusammengeschlagen. Nur dank des Eingreifens seines Vaters ist er bisher vor dem Gefängnis bewahrt worden.« Er senkte die Stimme. »Und dennoch liebt er diesen Jungen, wie Väter ihre Kinder eben lieben, egal, welche Sünden sie begehen, egal, wie weit sie sich von den Hoffnungen, den Träumen und der Zartheit ihrer Kindheit entfernen.« Er sah der Reihe nach Margaret, Gwen und Celia in die Augen.
Dann verharrte er auf seinem Stuhl, ein großer, breitschultriger, massiver Mann mit einem vollen Gesicht, das gutmütig wirkte, bis man versuchte, in den kohlschwarzen Augen zu lesen.
Stille trat ein. Am Tisch herrschte eine Intensität an Emotionen, in der jedes Wort gestört hätte und als peinlich empfunden worden wäre.
Rathbone wusste, dass Hester von Rupert beträchtliche Geldspenden für die Finanzierung der Klinik angenommen hatte. Hätte sie sie auch dann noch akzeptiert, wenn sie über seine dunklere Seite im Bilde gewesen wäre, die so ganz anders war als der sonnige Charme, den er ihr gegenüber an den Tag legte?
Seine Gedanken wanderten weiter. Konnte es sein, dass auch Ballinger sich aufgrund seiner Loyalität, die nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen durfte, an Richter Sullivan gekettet hatte? Sein Erwerb obszöner Fotografien, bei dem ihn Claudine Burroughs beobachtet hatte, hätte Teil eines verzweifelten Versuchs sein können, Sullivan vor sich selbst zu retten. In diesem Lichte gesehen, musste das Scheitern solcher Bemühungen Ballinger in einen Kummer gestürzt haben, den er keinem Menschen offenbaren konnte – eine Sünde von einem vollkommen anderen Gewicht. Doch Sullivan war tot. Also war es wohl seine eigene Familie, die Ballinger schützen wollte. Diese Vorstellung lockerte Rathbones innere Knoten. Plötzlich durchströmte ihn Wärme, und er konnte wieder lächeln.
Es war Mrs Ballinger, die den Gesprächsfaden erneut aufnahm. Rathbone gestattete es sich, die Worte an sich vorüberziehen zu lassen. Stattdessen dachte er an Ballingers Liebe zu seinen Töchtern, die ihn anscheinend alle drei glücklich machten.
Seine Augen wanderten zu Margaret hinüber, die sich vorgebeugt hatte und George lauschte, als ob seine Worte sie tatsächlich interessierten. Rathbone wusste genau, dass das nicht der Fall war. Doch Margaret hätte Celia zuliebe Georges Gefühle nie verletzt. Die Loyalität in dieser Familie ging tief, und man konnte sich stets darauf verlassen, ob in guten oder in schweren Zeiten. Rathbone merkte mit einem Mal, dass er Margaret in seinem Stolz auf ihre Liebenswürdigkeit regelrecht mit Blicken verschlang.
Der letzte Gang wurde aufgetragen. Danach zogen sich die Damen zurück und überließen es den Herren, den Portwein herumzureichen und etwas Käse zu naschen, wenn ihnen danach war.
Später im Empfangszimmer drehte sich die Konversation wieder um Banales: harmlose Klatschgeschichten und amüsante Anekdoten. Rathbone fiel es schwer, sich am Gespräch zu beteiligen, denn von den Leuten, um die es ging, kannte er nur wenige. Darüber auch noch zu lachen war so gut wie unmöglich. Außerdem vermisste er den trockenen Humor, den er so schätzte.
»Du bist so still, Oliver«, bemerkte Mrs Ballinger, die Stirn in Falten gelegt, und wandte sich von Celia ab. »Bedrückt dich etwas? Hoffentlich gab es keine Probleme mit dem Essen.«
»Ganz bestimmt nicht, meine Liebe!«, versicherte ihr Ballinger hastig. »Er ist nur etwas durcheinander, weil ich beim Portwein seinen Freund Monk kritisiert habe, der meiner Meinung nach viel gefährlicher ist, als Oliver es wahrhaben will. Seine Loyalität ehrt ihn, aber ich glaube, sie ist fehl am Platze. Es ist kein unüblicher Charakterzug, gut von den eigenen Freunden zu denken, selbst wenn alles gegen sie spricht.« Kurz ließ er die Zähne zu einem Lächeln aufblitzen. »Und auf gewisse Weise ist das wohl auch bewundernswert.« Er deutete ein Schulterzucken an. »Aber wie er selbst festgestellt hat, können wir uns in der Rechtsprechung keinen solchen emotionalen Luxus leisten. Wir sind die letzte Zuflucht derer, die verzweifelt nach Gerechtigkeit verlangen, nicht mehr und nicht weniger.«
»Bravo, Papa!«, rief Margaret mit leicht rosa gefärbten Wangen. »Wie perfekt du Kopf und Herz in Einklang bringst! Natürlich hast du recht. Wir können Loyalität nicht vor Gerechtigkeit stellen, sonst würden wir nicht nur diejenigen verraten, die uns vertrauen, sondern auch uns
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