Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Ort, der in puncto Gewagtheit alles in den Schatten stelle, was bisher erwähnt worden war. Er meinte, Gefahr sei das Einzige, was das Herz wirklich zum Rasen bringe, und das Blut …« Er verstummte. Seine Augen verharrten auf Rathbones edlem Anzug, dem makellosen, steifen Hemd.
    »Ich kann es mir vorstellen«, bemerkte der Anwalt trocken. »Sie müssen mir nicht jedes Detail seiner Beschreibung wiedergeben. Das Risiko, ruiniert zu werden, war die höchste Versuchung von allen.«
    »Ja«, bestätigte Rupert sehr leise. »Jetzt kann ich es gar nicht mehr glauben, dass ich derart dumm war!«
    »Es war ein Boot auf dem Fluss?«
    »Sie wissen ja schon, was es damit auf sich hatte.«
    »Ich bin trotzdem darauf angewiesen, dass Sie es mir schildern.«
    Rupert zuckte zusammen, als hätte Rathbone einen offenen Nerv berührt. »Ich bin hinausgefahren, zusammen mit den anderen. Wir waren ungefähr ein halbes Dutzend. Das Boot lag auf der anderen Seite der Chiswick Ait. Musste mich ganz schön in die Riemen legen. Und weil die Luft schon kühler war, war ich wieder halbwegs nüchtern, als wir dort anlegten. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein normales Bordell, nur dass es auf einem Boot war. Wir wurden freundlich empfangen, bekamen einen der besten Brandys, die ich je getrunken hatte … und dann … dann gab es eine Art Aufführung … sehr direkt … Männer und kleine Jungen, die teilweise gerade erst fünf, sechs Jahre alt waren.« Seine Stimme brach, und sein Gesicht färbte sich purpurn.
    Rathbone wartete.
    »Es … es war eine Art Club. Einer mit … Initiationsriten. Wir mussten … daran teilnehmen und … uns fotografieren lassen. Es war ein Wagnis … die höchste Form des Risikos, bei der man alles verlieren konnte. Jeder von uns hat sich darauf eingelassen.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich hatte nicht den Mut, mich zu weigern. Danach bin ich zur Gangway hinausgekrochen und habe mich auf der anderen Seite in den Fluss übergeben. Ich wollte nur noch weg, aber es gab keine Möglichkeit, außer ins Wasser zu springen und zu hoffen, dass man nicht versank.« Er schluckte. »Hätte ich auch nur einen Funken Ehre im Leib, hätte ich das auch getan. Schlammbedeckt und bis auf die Knochen nass aus dem Fluss zu waten und durch die Straßen von Chiswick zu taumeln wäre tausendmal besser gewesen als die Hölle, die all dem folgte.«
    Rathbone konnte sich das lebhafter ausmalen, als ihm lieb war. In seiner Zeit an der Universität hatte e s T age gegeben, als er, selbst nicht ganz nüchtern, nicht ganz diskret gewesen war. Und noch immer hoffte er, dass sein Vater das nie erfahren würde, auch wenn er es sich vielleicht denken konnte. Seine Exzesse waren nie von einem Ausmaß gewesen, wie er es jetzt von Rupert zu hören bekam, doch die brennende Scham darüber war nicht minder real.
    »Bitte fahren Sie fort«, bat er in sanfterem Ton.
    »Ich torkelte über die Gangway wieder zurück. Einer von Parfitts Männern war mir gefolgt. Wir prallten zusammen, und ich weiß nur noch, dass ich in die Tiefe stürzte. Dabei prallte ich immer wieder gegen Wände, bis ich unten aufschlug. Ich erinnere mich an Gesichter, die mich benommen anstarrten, und ich fühlte mich entsetzlich. Dann muss ich das Bewusstsein verloren haben, denn das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich in einer der Kabinen auf dem Bett lag und Parfitt mich hämisch angrinste. ›Sie sollten nich’ so viel trinken, Mr Cardew‹, sagte er vor Schadenfreude feixend. ›Sie sind die Treppe runtergefallen, und wie! Aber davor hatten Sie ja noch mächtig Spaß.‹ In dem Moment hatte ich die Bühneneinlage mit den kleinen Jungen und der Fotografie ganz vergessen und dachte mir deshalb nicht viel dabei. Er gab mir einen kräftigen Schluck Brandy und half mir auf die Beine. Danach fuhr ich mit meinen Freunden zum Ufer zurück – was für ein verdammt unpassendes Wort für diese Kerle!« Ein bitterer Ausdruck zuckte über sein Gesicht.
    Rathbone empfand Mitleid, und zu seinem eigenen Erstaunen glaubte er ihm. »Was ist dann geschehen?«, fragte er, obwohl er es eigentlich schon wusste.
    Rupert senkte wieder den Blick. »Etwa eine Woche später hat Parfitt mir einen Brief nach Hause geschickt und mich eingeladen, wieder auf dem Boot mitzufeiern. Ich habe den Brief auf der Stelle verbrannt.«
    »Aber er hat wieder geschrieben?«
    »Ja. Beim zweiten Mal habe ich ihn einfach ignoriert. Genauer gesagt, ihn verbrannt, ohne ihn zu öffnen. Die

Weitere Kostenlose Bücher