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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verbesserte sie den Jungen. »Ja, das halte ich für eine hervorragende Idee. Aber weißt du, wo wir ihn finden?«
    »Natürlich weiß ich das. Bloß is’ das keine Gegend, wo eine Dame hingehen sollte.« Jetzt legte er die Stirn besorgt in Falten.
    »Scuff«, sagte Hester in ernstem Ton, »lass uns einen Handel schließen …«
    Er starrte sie skeptisch an.
    »Ich passe auf dich auf, und zwar ohne dich dabei zu bevormunden, wenn du es bei mir genauso hältst. Einverstanden?« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
    Er überlegte kurz, dann ergriff er sie mit seinen kleinen, dünnen Fingern. »Einverstanden.«
    Gemeinsam liefen sie die Paradise Row zum Anlegesteg Princes’ Stairs hinunter und nahmen die Fähre nach Wapping, wo sich auch die Polizeiwache befand, deren Kommandant Monk war. Am anderen Ufer angekommen wandten sie sich gemäß Scuffs Anweisungen westwärts in Richtung Pool of London, dem betriebsamen Hafen mit seinen riesigen Docks.
    Kein Wort fiel zwischen ihnen. Scuff schien sich auf Lauschen und Beobachten zu konzentrieren. Seine Jacke war bis zum Kinn zugeknöpft, seine Schirmmütze saß fest auf dem Kopf. Er trug seine neuen Stiefel, ein richtiges Paar und nicht wie früher irgendwo gefundene Einzelteile. Hester hing ihren eigenen Gedanken darüber nach, was sie noch alles in Erfahrung bringen musste und wie weit sie mit ihren Fragen gehen konnte, ohne Scuff und sich selbst zu gefährden. Pornografie und Prostitution stellten gewaltige Wirtschaftszweige dar, in denen man ungeheure Gewinne machen konnte. Aber natürlich drohten auch täglich Gefahren seitens der Justizbehörden. Nicht nur der Gewinn, sondern das Überleben hing davon ab, dass man wusste, was man nicht sagte, und vor allem, wem man es nicht sagte.
    Fast den ganzen Vormittag mussten sich Hester und Scuff durch den Lärm und das hektische Treiben zwischen den Kränen, Karren und turmhohen Stapeln aus Frachtgut und Holz kämpfen, bis sie zu guter Letzt Crow in einem Wohnhaus in der Jacob’s Street am Südufer gegenüber der St. Saviour’s Wharf entdeckten. Crow war ein großer, schlanker Mann Mitte dreißig mit dichtem, pechschwarzem Haar, das er sich von der hohen Stirn nach hinten gekämmt hatte und das ihm über den Kragen fiel. Seine Miene wirkte ernst und düster – bis er lächelte: Dann entblößte er mit einem strahlenden, breiten Grinsen zwei Reihen kerngesunder Zähne.
    Er war im Begriff zu gehen und kam gerade mit seiner großen schwarzen Arzttasche in der Hand die Treppe herunter, als sie das Haus erreichten. Bekleidet war er mit einem abgewetzten Mantelrock und einer schwarzen Hose, die ihm allenfalls bis zu den Knöcheln reichte. Er freute sich aufrichtig über das Wiedersehen mit Scuff, und der Junge war es, auf den sein Blick zuerst fiel, ehe er Hester begrüßte.
    »Hallo, Mrs Monk. Was führt Sie in diese Gegend? Ärger?«
    »Was sonst!« Sie reichte ihm die Hand.
    Er spreizte seine knochigen Finger und betrachtete sie mit Abscheu. »Ich bin schmutzig«, brummte er kopfschüttelnd. Er schaute wieder zu Scuff hinüber, als müsste er dessen Unversehrtheit prüfen. Als Scuff von Jericho Phillips entführt worden war, hatte Crow alles stehen und liegen lassen, um bei der Suche nach dem Jungen zu helfen.
    Hester erwiderte Crows Lächeln und ließ langsam die Hand sinken. »Haben Sie von dem Mord an Mickey Parfitt gehört?«, fragte sie, während sie sich in Bewegung setzten und die enge Gasse zum Fluss hinunterliefen, sorgfältig darauf bedacht, nicht in die Abfälle zu treten.
    »Natürlich«, antwortete Crow. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, Mrs Monk, aber ich hoffe, dass sie den armen Kerl, der ihn abgemurkst hat, nie erwischen werden. Falls Sie mich dafür um meine Hilfe bitten wollten, muss ich ablehnen. Tut mir leid, aber ich habe zu viel zu tun. Es wird Sie wundern, wie viele Kranke wir hier haben.« Er blickte zu den rußverschmierten Fassaden der links und rechts von ihnen dicht aneinandergereihten Wohnhäuser hinauf, von deren Dachsparren es unablässig herabtropfte.
    Sie musterte ihn prüfend. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben, und sein fröhliches Lächeln war erstorben. Sie kannte ihn seit Monks erstem Fall am Fluss, der nun bald ein Jahr zurücklag. Auch wenn sie sich seitdem gelegentlich über den Weg liefen, wurde ihr erst jetzt richtig klar, dass sie immer nur die Oberfläche seines Charakters zu sehen bekommen hatte. Über seinen Hintergrund sprach er nie, doch er verfügte über

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